Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
erweckten bei Walter ein peinigendes Verlangen nach der Sicherheit, die er für immer verloren wusste. Er schüttelte die Erinnerungen so energisch aus seinem Kopf, dass ihm so schwindlig wurde, als wäre das Karussell des Lebens, auf dem er nun schon seit Stunden fuhr, nicht nur ein abstrakter Begriff. Mit drückendem Gewissen, weil er sich vorgenommen hatte, schon auf der Fahrt weniger zu rauchen, kramte er nach einer Zigarette in seiner Manteltasche. Es war, er wusste es auf die Minute genau, die zweite in einer halben Stunde.
    Die Aktentasche sah nach sieben Jahren fast neu aus. »Qualität zahlt sich aus«, lobte Jettel, »das hat schon mein Vater gesagt.« Den Satz gebrauchte sie mindestens fünf Mal in der Woche, meistens wenn Walter ihr Vorhaltungen machte, dass sie sich ein zu teures Stück geleistet hatte. Sogar beim Rauchen drückte er die Tasche so fest unter seine Achselhöhle, als würden im Nachbarabteil schon die Räuber sitzen, um ihm die Dokumente zu entreißen. Nur die richtigen Papiere waren Gewähr für sein Überleben. Ihm ging auf, dass er sich mehr als nötig gequält hatte. Für einen mittellosen Flüchtling geziemten sich keine Blicke in luxuriöse Speisewagen mit fein gedeckten Tischen und vornehmen Reisenden. Walter Redlich, mit sechsundzwanzig promoviert, mit siebenundzwanzig Rechtsanwalt mit eigener Praxis und mit dreiunddreißig ein Verfemter, gehörte nicht mehr zu der Klasse von Menschen, die in einem Speisewagen Wiener Würstchen essen und ein Glas Bier trinken durften. Er war unterwegs nach Afrika mit einem Henkelkorb, und er zählte seine Zigaretten ab wie der Hilfskellner Franz in »Redlichs Hotel«. Allerdings hatte Franz sechs Kinder, eine Frau mit Dauerhusten und eine verwitwete Mutter, die nicht mehr für sich selbst sorgen konnte.
    Eine donnernde Stimme rief den Afrikareisenden zur Ordnung. Diese Stimme, so unwillkommen, so gefürchtet, so unausweichlich, verkündete das Urteil der letzten Instanz. Berufung war nicht mehr möglich. Noch ein paar Minuten, und dann würde Breslau, das letzte Stück Heimat, Vergangenheit sein. Vorbei, unwiederholbar, tot. Der beleibte Fahrdienstleiter, der Walter bereits auf dem Bahnsteig als ein Mann der Tat aufgefallen war, bellte mit der ganzen Kraft seines Amtes »Bitte, Platz zu nehmen!«, wobei das »Bitte« klang, als hätte dieser Mann der Tat seiner Lebtag um nichts zu bitten brauchen. Schnaufend stieß er gegen eine noch offene Tür. Sein Gesicht war ebenso feuerrot wie seine Mütze. Schon hob er den rechten Arm. Abreisende und Zurückbleibende, die soeben noch von ihren Plänen, ihren Wünschen und Empfindungen mit der Leichtigkeit der Jugend gesprochen hatten, verstummten. Sie schauten einander an und wussten nicht, was sie suchten. Die Worte, die Walter kamen, schickte er, weil er sich vor keinem Menschen mehr zu rechtfertigen, sich nicht mehr als tapfer und hoffnungsvoll zu verstellen brauchte, zum Himmel. Es waren die Gebete eines Verzagten. Sie entsprachen weder seinem Sprachschatz noch seinem Alter. Er merkte es und knetete seine linke Hand mit der rechten.
    »Tut mir leid«, entschuldigte er sich bei dem, der den Menschen noch nie verargt hat, dass Verzweiflung und Kleinmut sie wieder zu Kindern machen.
    Auf dem Tender am Ende des Zuges sah Walter einen kohlenschwarzen Zwerg stehen. Auch die Kapuze, die sein Gesicht umrandete, war dunkel. Über seinem Kopf schwenkte der Mann eine Schaufel. Einen Moment schien er riesengroß zu werden. Dann wurde er wieder klein und gedrungen. Der, der nicht reisen wollte, beneidete ihn - um seine Arbeit und sein Selbstbewusstsein und dass er die richtige Konfessionszugehörigkeit hatte, um im eigenen Land zu bleiben. Ein Wasserschwall stürzte zu Boden. In der Ferne erhob sich der Arm eines Ausfahrtsignals. Wie ein Stern funkelte ein winziges rotes Licht. Als es grün wurde, drängte die erleuchtete Schlange ins Leben. Erst in diesem Moment begriff der Reisende am Fenster, dass nicht der Zug nach Warschau auf dem gegenüberliegenden Gleis am Abfahren war, sondern sein eigner. Walter Redlich war unterwegs nach Genua. Er dachte an Kolumbus, hörte jemanden höhnisch lachen und erfuhr nie, dass er es selbst gewesen war.
    Die Häuser am Bahndamm wichen zurück. Immer schneller flogen die Bilder. Sie fegten am Auge vorbei, hatten weder Farbe noch Kontur, und doch hatten sie eine Botschaft. Die vom Aufbruch und die vom Leben in einer neuen Welt. Hatte er sich nicht als Junge in der Zeit von Pferd und

Weitere Kostenlose Bücher