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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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hatten. Bei Walter hatte die ungewöhnliche Mischung zu einem lang anhaltenden Dämmerzustand geführt, den er im Nachhinein als ein besonderes Geschenk von Morpheus empfand, bei Greschek zu einem bleiernen Abtauchen aus der Wirklichkeit. Trotzdem funktionierte sein Gedächtnis immer noch so gut wie sein Instinkt.
    Die Unterhaltung mit Walter war ihm auf alle Fälle so präsent, als wäre er nie eingeschlafen. Bis unmittelbar vor Coburg hatten die beiden über den Ehemann Königin Victorias gesprochen, der ja aus Coburg stammte und der Großvater Kaiser Wilhelms II. war. Greschek hatte es sehr beeindruckt, dass Walter nicht nur über den Mann sprach, als würde er ihn persönlich kennen, sondern dass er so getan hatte, als wäre der Großvater eines Kaisers und der Gatte einer Königin ein ganz gewöhnlicher Mann. »Der arme Tropf«, hatte der Herr Doktor gesagt, »hat ja auch auswandern müssen. Nach England.« »Damals hat es doch noch gar keinen Hitler gegeben«, hatte Greschek eingewandt.
    »Der Liebe wegen, Greschek, ist er losgezogen. Seine Heimat für eine Frau aufzugeben muss noch schlimmer sein, als rausgeschmissen zu werden. Denken Sie an den englischen König. Erst vor zwei Jahren hat der den Thron eines Weltreichs gegen ein Bett eingetauscht, in dem jetzt eine geschiedene Amerikanerin hockt.«
    Das Gespräch hatte Greschek schon deshalb fasziniert, weil es ihm stets schmeichelte, wenn er mit Themen konfrontiert wurde, die bei einem Mann mehr als einen durchschnittlichen Verstand und eine abgeschlossene Volksschulbildung voraussetzten. Mit dem ungewöhnlich interessanten Ausflug in die Vergangenheit war es jedoch auf einen Schlag vorbei gewesen. In Coburg waren drei junge Männer eingestiegen, zwei davon mit Gamsbart auf ihrem Trachtenhut, der dritte mit einem Kopfverband. Sie hatten eine Sprachfärbung und eine Ausdrucksweise, die einen Mann aus Oberschlesien, der noch nie weiter südlich als bis an den Neckar gekommen war, sehr unsicher machten. Außerdem hatten die drei Bayern ihre Koffer so hingestellt, dass den anderen beiden Reisenden weit weniger Platz blieb, als ihnen zustand. Ebenso dominierend setzten sie ihre Beine und Ellbogen ein.
    In der Vorhitlerzeit hätte Walter mit leidlich freundlichem Gruß das Abteil gewechselt, und Greschek hätte gewiss einige bildhaftere Ausdrücke gefunden, um deutlich zu machen, dass er Rücksichtslosigkeit bei der Jugend missbilligte. Unter Gegebenheiten aber, in denen die Minderheit sich nur durch Schweigen vor dem Angriff der herrschenden Klasse schützen konnte, verkrochen sich die Italienreisenden verängstigt in ihre Mäntel. Der eine überlegte, ehe er einschlief, ob die drei stimm-starken Männer von ihren Vätern, so wie doch er selbst in seiner Jugend, nicht auch gelernt hätten, dass Höflichkeit und Achtung vor anderen Menschen Christenpflicht sei. Eher verwundert als wirklich zufrieden dankte Walter dem Schicksal, dass er so schnell die Verhaltensregeln begriffen hatte, die einem verfemten Flüchtling anstanden.
    In Augsburg war das lärmende Trio mit dem früh entwickelten Traum vom Lebensraum ausgestiegen. Mithin war das Abteil wieder ein Ort der relativen Freiheit und des nächtlichen Friedens. Walters neue Armbanduhr, ein Geschenk seines Vaters beim Abschiedsbesuch in Sohrau, zeigte an, dass dem 8. Januar 1938, der so erregend begonnen hatte, nur noch zwanzig Minuten beschieden waren. Es waren mithin nur noch neunzehn Minuten bis München. Walter wurde erst schweigsam und danach von lange vergessenen Jugenderinnerungen heimgesucht, die ihn in ihrer Deutlichkeit beklommen machten. Seit seinem zehnten Lebensjahr hatte er sich immer wieder gewünscht, München kennenzulernen. Im Juni 1914 war ein Handelsvertreter aus München in »Redlichs Hotel« abgestiegen, Trachtenstoffe, Bordüren und Hornknöpfe im Gepäck, die das Entzücken der Frauen erregten. Außerdem besaß er drei Packungen weißer Würste. Der ungewöhnliche Gast ließ sie in der Hotelküche wärmen und aß sie mit einem bräunlichen Mostrich, den er in einem Glas mit sich führte und als »süßen Senf« bezeich-nete. Walter hatte es sich in den Kopf gesetzt, von dem Mostrich aus dem fernen deutschen Land zu kosten, doch er bekam nie welchen. Trotzdem gefiel ihm der Bayer mit dem enormen Appetit. Er war stets liebenswürdig und besonders kinderlieb. Sein langer, dichter Bart, die buschigen Augenbrauen und speckigen Lederhosen, die in weißen Strümpfen steckten und den Hosen ähnelten,

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