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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Verdauungsschnaps wirkte umgehend und gründlich. Nur in den ersten zwei Minuten war es Walter peinlich, dass sein Begleiter mit offenem Mund schlief und so entspannt schnarchte, als gehöre ihm die Welt. Dann schlief auch er ein, obgleich auf dem Gang die Mutter mit dem zahnenden Kind stand und es wieder weinte.
    Es waren unbarmherzig deutliche Träume, die Walter zurück in die Angst holten. Er sah die Linden vor seinem Vaterhaus stürzen, und er sah alle Häuser am Leob-schützer Ring brennen. Als er aufwachte, war ein Ehepaar zugestiegen. Der Mann hatte das Parteiabzeichen im Knopfloch seines grauen Jankers. Auf der wogenden Brust seiner Frau baumelte ein beruhigendes Kreuz in Elfenbein. Die beiden Italienreisenden waren jedoch von der Zeit geschult, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sie ließen sich von dem Kreuz nicht in die Irre führen und widmeten dem Parteiabzeichen die besondere Beachtung, die einem Parteiabzeichen im Jahr 1938 zustand. So kam es, dass Walter Redlich und Josef Gre-schek kein Wort mehr sprachen, ehe sie in Dresden ausstiegen.
Endstation Friedhof
»Du darfst jetzt nicht weinen, Jettel. Was ist, we
»Ich merke immer ganz schnell«, erklärte Regina un
Zurück nach Hause?

Endstation Friedhof
    München-Genua, 9. Januar 1938
    »Sind wir denn schon raus aus Klapsburg?«, grunzte Gre-schek.
    »Coburg«, verbesserte Walter. »Ehe Sie einschliefen, waren Sie klüger. Da hatten Sie sogar von Sachsen-CoburgGotha gehört.«
    »Und was soll daran klug sein, Herr Doktor? Aus Gotha beziehe ich meine Kabel und Schalter. Seit Jahren.« Greschek, der Schlips verrutscht und die obersten zwei Knöpfe seines Hemdes offen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schüttelte die Beine aus.
    »Mann, leben Sie auf großem Fuß. Das muss hilfreich sein in solchen Situationen, bei denen es auf Kraft und Umfang ankommt.«
    »Aber nicht beim Schuhekaufen. Meine muss ich mir immer beim Schuster Zilinsky in Ratibor machen lassen, und glauben Sie mir, der nutzt jede Notlage aus.«
    »Wer tut das nicht? Denken Sie nur an Jakob. Der hat die Kurzsichtigkeit seines hungrigen Bruders ausgenutzt und ihn mit einer Schüssel Linsen um sein Erstgeburtsrecht gebracht. Ich kann nie Linsen essen, ohne daran zu denken.«
    »Was Sie aber auch alles wissen. Professor hätten Sie werden können, wenn Sie nur gewollt hätten.«
    »Und wo wäre ich heute? Auch ein Mann, den man mit einem Tritt in den Hintern aus dem Amt gejagt hat und der im besten Fall unterwegs nach Genua ist. Den jüdischen Professoren ist es besonders früh an den Kragen gegangen. Die hatten ja auch oft Kollegen, die nicht abwarten konnten, sich auf Stühle zu setzen, für die sie nicht geschaffen waren.«
    Grescheks Schuhe standen unter dem Sitz, mit den Schnürbändeln aneinandergebunden - wie er es von seinem Bruder Waldemar gelernt hatte, dem einmal beim Baden der linke Stiefel in einen See gefallen war und der dafür statt Mittagessen zwei Ohrfeigen kassiert hatte. Ein halbes Jahr danach war Waldemar in der väterlichen Jauchegrube ertrunken und die Mutter stumm geworden. Josef, der jüngste Bruder, erinnerte sich immer dann an die häusliche Tragödie, wenn seine Schuhe nicht vor dem eigenen Bett standen.
    Es gab wahrscheinlich nur wenige Menschen, die beim Aufwachen so ungeniert laut und so unappetitlich gähnten wie Walters Reisebegleiter. Greschek starrte abwechselnd in die sternlose Nacht und zu den Koffern in der Ablage. Er empfand die fahle Deckenbeleuchtung als eine Sparmaßnahme, die den Ruf der gesamten Reichsbahn schädigte. Vor allem erschien sie ihm als Provokation für einen Elektriker, der es so weit gebracht hatte wie er und der in Leobschütz sowohl Lampen als auch Glühbirnen verkaufte, die sich in jedem Geschäft in Breslau hätten sehen lassen können. »In jedem«, murmelte er. Auch fünf Minuten nach dem Wachwerden fühlte sich Greschek wie betäubt. Er konnte sich gerade noch erinnern, dass sich vor einigen Stunden die Landschaft so plötzlich verfinstert hatte wie zu Zeiten von Moses, als
    Gott die Ägypter mit der großen Finsternis dafür bestraft hatte, dass sie die Juden quälten. »Vielleicht wiederholt er ausgerechnet heute seinen großen Glückswurf und wir können wieder nach Hause fahren«, hatte Walter gesagt. Weniger klar bewusst war Greschek im Moment des Aufwachens, wie entscheidend der besonders feine Weinbrand aus Frau Inas Korb und der Schlehenschnaps aus Leobschütz den Gemütszustand der Reisenden beeinflusst

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