Nur die Liebe bleibt
eine Marotte gewesen, eine harmlose Verrücktheit, für einen zufälligen Zaungast der Szene noch nicht einmal eine Überlegung wert. Nun, da in Deutschland auch die kleinste Verrücktheit verdächtig war, beunruhigte Walter die Vorstellung, ein Mensch müsste sich maskieren, um nicht aus dem genormten Raster zu fallen. Sein Herz klopfte. Er drückte es mit beiden Hände zur Ruhe. Lieber hätte er einen Schluck Weinbrand aus Inas silbernem Flakon genommen, aber er traute sich nicht. Es verwirrte ihn, dass er nicht wusste, weshalb er sich genierte.
Der Mann setzte sich stöhnend und begann in seiner Aktentasche zu wühlen. Seine Nervosität war auffallend, ebenso beunruhigend waren die Seufzer, sein Hüsteln und das wiederholte Kopfschütteln. »Jesus Maria!«, murmelte der nächtliche Eindringling. Aus seinem Mund klang der Ausdruck noch gekünstelter als das »Grüß Gott«. Er knirschte mit den Zähnen, und er wirkte, als wäre er in einem feinen Restaurant beim Diebstahl des Salzstreuers ertappt worden. Auch schien er zu merken, wie genau er beobachtet wurde. Sein Gesicht, zuvor bleich und übernächtigt, war rot, als er hochschaute. Hastig wischte er seine Stirn trocken, sah Greschek an, räusperte sich wie einer, der seine fällige Rede sorgfältig geprobt hat, sagte jedoch nichts. Greschek zog seinen Mantel eng um sich. Er ließ keinen Zweifel an seiner Absicht, auf der Stelle einzuschlafen. Walter fiel ein, dass er in den Abenteuerbüchern seiner Jugend immer wieder von einer »gespenstischen Stille« gelesen und sich jedes Mal über den Ausdruck geärgert hatte, weil er die abstrakte Beschreibung als eine überflüssige Verzögerung der Handlung verabscheut hatte. Mit einem Mal erschienen ihm die beiden Worte ein geradezu ideales Geschwisterpaar, doch kam er nicht mehr dazu, sich Gedanken über die seltsame Beziehung von Lebenslage und Erinnerung zu machen.
Der unruhige Reisende, noch immer im Mantel, stand auf. Zwei Mal ging er von der Abteiltür zum Fenster. Er hatte lange Beine, große Füße und ein breites Kreuz. Wie ein wildes Tier in einem zu kleinen Käfig schien er den Raum zu sprengen. Schnell und rüttelnd fuhr der Zug in eine Kurve. Der Mann musste stehen bleiben, um wieder Halt zu finden. Er lächelte wie ein wohlerzogener Verkäufer, als er Walter seine Aktentasche hinhielt. »Ob Sie die für mich einen kleinen Moment verwahren könnten?«, fragte er. Sein Ton war bittend, die Aussprache deckte sich nicht mehr mit seiner Kleidung. »Ich mag«, fuhr der Demaskierte nach einer Pause fort, »das Ding nicht mit in den Speisewagen schleppen. Das sieht so komisch aus. Eigentlich wollte ich mich gleich aufs Ohr legen, aber ausgerechnet jetzt habe ich einen Durst, als wäre ich durch die Kalahariwüste galoppiert. Das muss von den Rollmöpsen kommen. Ich könnte einen ganzen Eimer aussaufen.«
Es war nicht mehr zu überhören, dass der Mann in Trachtenhut und Lederweste aus Thüringen stammte und auch sonst das war, was Walters Mutter als »nur von weitem koscher« bezeichnet hatte. Seine Sprache erweckte den Eindruck, als hätte er sich eigens die volkstümlichen Ausdrücke zurechtgelegt, mit der er seiner Bitte Farbe gegeben hatte. Redewendungen wie »aufs Ohr legen« oder »einen Eimer aussaufen« passten ebenso wenig zu ihm wie sein bayerisches Dekor. Dass er nicht von einer Wüste im Allgemeinen gesprochen, sondern eine exakte Ortsbestimmung abgeliefert hatte und dazu noch von einem Teil der Welt, für den sich fünfzigjährige Deutsche mit Mantel, Hut und Aktentasche allenfalls intensiv interessierten, wenn sie eine Auswanderung in den südlichen Teil Afrikas erwogen, machte Walter erst recht stutzig.
Mit einem Instinkt, der bei ihm bisher eher unterentwickelt gewesen war, witterte er die Bedrohung. Es war eine Gefahr der neuen Zeit, die er auf sich zukommen sah. Sie tarnte sich meisterhaft und erforderte für den, der zu reagieren hatte, zeitgemäße Charaktereigenschaften: Misstrauen statt Hilfsbereitschaft. Bei dem Gedanken, dass er bereits das Klassenziel erreicht hatte, fühlte sich Walter wie ein Verräter an seinem Glauben. Und an einem Glaubensgenossen! Es war genau die Situation eingetreten, vor der Heini Wolf wiederholt gewarnt hatte: An den deutschen Grenzen tauchten plötzlich Unbekannte auf, die ihren Reisegefährten Papiere oder Päckchen zustecken wollten. Manche lockten ungeniert mit Geldscheinen in beträchtlicher Höhe, andere hatten logische Erklärungen für ihr Ansinnen
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