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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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unterhalten und weshalb er es unterlassen hätte, die silberne Klappdeckeluhr seines Großvaters als Auswanderungsgut zu deklarieren. Der Mann, der wieder ein Mensch unter Menschen sein durfte, machte aus seiner Hand eine Mulde. Sie war gerade groß genug für einen Kuss. Den blies er dem Baby zu. Die Mutter schrie entzückt auf.
    »Greschek, ich hab’s geschafft!«
    »Ist alles in Ordnung bei Ihnen, Herr Doktor? Ich meine, wir sind doch noch längst nicht in Genua.«
    »Aber ich bin dort, wo ich jeden Nazi, den ich treffe, in den Hintern treten kann. Ich muss nicht mehr vor jedem Scheißkerl in Uniform zittern. Ich brauch nicht mehr darauf zu achten, dass meine fünfjährige Tochter nichts ausplappert, was ich gesagt habe, und mich ins Zuchthaus bringt. Vielleicht lerne ich eines Tages sogar, wieder einzuschlafen, ohne den lieben Gott damit zu belästigen, er möge unser Leben retten.«
    »Glauben Sie wirklich, es kommt so schlimm?«, fragte Greschek.
    »Würde ich sonst nach Afrika fahren und jeden Tag um das Wunder flehen, dass ich meine Frau und Regina bald nachholen kann?«
    »Gott erhalte Franz, den Kaiser«, sagte der Großvater, »unseren guten Kaiser Franz.« Er kämpfte mit jeder Silbe. »Mozart«, fügte er lachend hinzu. Dann sagte er: »Ich hatt’ einen Kameraden.«
    Wenn er die Stimme in die Tiefen seiner Erinnerungen eintauchte, sang er beim Reden. Mit der Intuition und dem Sprachempfinden der Menschen, die in Grenzgebieten aufwachsen, begriff Walter sofort, dass der alte Mann sowohl seine Geschichte erzählt hatte als auch die einer Welt, die 1914 mit den Schüssen von Sarajewo für immer untergegangen war. Der Deutsch radebrechende italienische Großvater hatte Geiger werden wollen, doch die, die das Sagen hatten, kommandierten ihn ab zur Schlacht am Isonzo. Dort war er in die Hände der Feinde geraten, schließlich in Linz gelandet. Bei Tag war er ein Kriegsgefangener wie seine italienischen Kame-raden gewesen, doch abends hatten ihn die österreichischen Offiziere geholt, um für sie aufzuspielen - Walzer und Mozart, Schlager und Militärmärsche. Und wurde ein Feind zu Grabe getragen, stand der Geiger aus Pesaro in der ersten Reihe.
    Es überraschte den Soldaten von damals nicht, dass die paar deutschen Worte, die er gesagt hatte, auf seinen stillen Mitreisenden ebenso wirkten wie seinerzeit in Linz die Musik auf die österreichischen Of fizi ere. Wenn es um Heimatklang und Sehnsucht ging, waren sich alle Menschen gleich. »Si«, bestätigte er und dachte an die Zeiten, von denen noch nicht einmal der Sohn etwas wissen wollte. Dann sagte er: »So«; er gab sich große Mühe, sich an weitere deutsche Vokabeln zu erinnern, doch sein Gedächtnis war erschöpft.
    Der Weltmann wusste sich zu helfen. Es war zehn Minuten vor Verona, als er seine Geige aus dem Kasten holte. Mit Rossini, dem er sich besonders verbunden fühlte, weil auch der aus Pesaro stammte und beide für gutes Essen schwärmten, fiedelte er erst seine zwei Enkelkinder und dann Walter in den Schlaf - den mit Melodien aus »Der Türke in Italien«. Der Mann mit der Enzianflasche und dem Geigenbogen war ein wahrer Menschenfreund. Er wusste, dass es sadistisch ist, Menschen, die bei Musik einschlafen, durch unvermittelt eintretende Stille aus ihren Träumen zu reißen. Also spielte er immer weiter.
    Walter, ausgebrannt vom tiefen Tal, das er durchwandert hatte, und von der Angst, die Seinen im Stich zu lassen, brauchte sich in seinen Träumen weder zu bewähren noch Entscheidungen zu treffen. Er erwachte erst, als das Baby brüllte. Da fuhr der Zug gerade in Mailand ein. Die
    Mutter balancierte das verschlafene Kind wieder auf dem Bauch, der Puppenstubenpapa machte die Apfelkiste zu, und der Großvater mit der nie ganz erlöschenden Sehnsucht nach der Zeit, als er allabendlich König im Feindesland gewesen war, streichelte seinen geliebten Lebensbegleiter. Zwar gelang es Walter, sich die Farben und die Komposition des Bühnenbildes einzuprägen, doch er schaffte es nicht mehr, sich persönlich von den Darstellern zu verabschieden. Erst als der Zug wieder anfuhr, bemerkte er die himmelblaue Decke: Beim Aussteigen hatte sie ihm die Mutter des Bambino über die Beine gelegt. Als Trost für den Fleck auf der Krawatte. »Mensch Greschek, bin ich besoffen, oder habe ich geschlafen?«
    »Beides, Herr Doktor. Ehe Sie eingeschlafen sind, habe ich Sie gefragt, was wir denn in Genua machen werden. Und Sie haben immerzu von einem Friedhof geredet.«

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