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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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»Da war ich nicht besoffen, mein Lieber. Weiß Gott nicht. Der Friedhof in Genua ist weltberühmt. Eine Sehenswürdigkeit und eine erstklassige Adresse für einen Mann, der seine Lebenshoffnungen standesgemäß begraben möchte.«
    Warum ist nicht mehr jetzt?
    Breslau-Hamburg, 18. Juni 1938
    »Was bin ich froh, dass ich einmal in meinem Leben nicht eine Stunde vor Abfahrt des Zuges anrücken musste«, freute sich Jettel. »Wenn sich Walter am Bahnhof nicht die Beine in den Leib steht, hat er seiner Meinung nach schon den Zug verpasst. Die Leute in Leobschütz sind so. Pünktlich wie die Maurer. Das hat mich immer ganz me-schugge gemacht.«
    »Mir gefällt Leobschütz«, schmollte Regina. »Meine Puppen wohnen dort. Und mein gutes Schaukelpferd. In einem großen Schloss mit einem König. Der ist auch ganz meschugge.«
    »Komisch«, raunte Jettel, als Regina ihre Stirn an der Fensterscheibe vom Abteil platt drückte, weil auf dem Bahnsteig der Mann mit dem roten Luftballon an seinem weißen Karren vorbeilief, »das Theater mit Leobschütz macht sie erst seit dem Kofferpacken. Als wir in Leob-schütz abfuhren, hat sie noch nicht einmal unserer guten Anna eine Träne nachgeweint. Sie hat sich überhaupt nicht nach ihr umgeschaut. Wir haben uns immer gewundert, Walter und ich. Anna war doch ihr Ein und Alles. Umgekehrt auch. Sie kam fünf Tage nach Reginas Geburt ins Haus.«
    »Kinder sind so«, erinnerte sich Ina. »Plötzlich holen sie
    Dinge aus ihrem Gedächtnis, von denen man glaubt, sie hätten sie gar nicht mitbekommen. Zum Glück vergessen sie ebenso schnell. Das habe ich zum ersten Mal gemerkt, als Vater starb. Suse war ja damals erst vier Jahr alt, aber erst als sie aufs Gymnasium kam, hat sie zum ersten Mal ihren Vater erwähnt.«
    »Typisch Suse«, fand Jettel. Sie leckte ihre Lippen, als sie die schwesterliche Rivalität ihrer Kindertage belebte, »das gnädige Fräulein hat ja ihre Auftritte immer sehr sorgfältig geplant.«
    »Meine Tante Suse ist in Amerika und backt mir einen Kuchen«, sagte Regina. »Mit Kirschen und Himbeeren. Und grünen Blumen.«
    »Psst«, flüsterte ihre Großmutter, »das soll doch ein Geheimnis sein. Unser Geheimnis. Schau dir lieber die schöne Uhr an und sag mir, wie spät es ist. Ich bin gespannt, ob du den kleinen Zeiger entdeckst. Er hat sich versteckt.«
    Die Bahnhofsuhr, im Frühjahr auf Hochglanz gebracht, zeigte neun Uhr dreiundfünfzig; sie machte den Eindruck, als sei sie noch nie um auch nur eine Sekunde nachgegangen. Das gleiche Vertrauen in deutsche Verlässlichkeit und Ordnung erweckte der Zug nach Hamburg. Die Waggons blitzten vor Sauberkeit, jede Fensterscheibe war frisch gewienert, kein Fussel lag auf den Polstern, kein Papierstückchen auf dem Boden. Im Speisewagen mit den königsblauen Stühlen standen zwei Ober, steif wie die Zinnsoldaten, die Servietten über dem Arm. Der Tag mit dem klaren blauen Junihimmel war sonnig, aber kühl.
    »Ideales Reisewetter«, sagte Ina - so munter wie in den Zeiten, da sie in den großen Ferien mit ihren Mädels nach
    Norderney gefahren war. Oder nach Heringsdorf. Eine schöne junge Witwe mit drei wunderschönen Töchtern.
    »Kommt drauf an, wohin man reist«, erkannte Jettel, »und weshalb.« Sie war blass und übernächtigt. Auch sie dachte an Norderney und dass ihre Mutter, solange Suse klein war, stets das Kindermädchen mit in die Ferien genommen hatte. »Sonst habe ich ja gar keine Erholung«, hatte sie Jahr für Jahr gesagt. Jetzt hatte Ina noch nicht einmal eine Zugehfrau. Frauen, die unter fünfundvierzig waren, durften nicht mehr in jüdischen Haushalten arbeiten, die Älteren fürchteten Repressalien. Selbst Frau Walburga, die dreißig Jahre lang jeden Montag in die Goethestraße gekommen war, um bei der Wäsche zu helfen, Kartoffelsuppe zu essen und sich an den Geschenken für ihre fünf Kinder zu freuen, war eines Tages weggeblieben. Ohne Begründung und ohne Abschiedsgruß.
    »Wirklich ideales Reisewetter«, wiederholte Ina. Weil sie nicht rechtzeitig von Norderney losgekommen war, war ihre Stimme weder munter noch aufmunternd.
    Bis zur Abfahrt des Zugs blieben fünf Minuten. Jettel Redlich blieben noch dreihundert Sekunden in ihrer Vaterstadt - drei mal hundert Sekunden, um zu begreifen, was nicht zu begreifen war. Was sollte eine Frau von dreißig Jahren, schön, selbstbewusst, eigensinnig und verhätschelt, mit fünf Minuten Galgenfrist anfangen? Jettel zuckte mit den Schultern, und doch verhielt sie sich

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