Nur die Liebe bleibt
geschickt und umsichtig. Inas Lieblingstochter zählte nicht die Zeiteinheiten, die ihr zum Seufzen blieben, und nicht die Tränen, die sie Reginas wegen nicht weinen durfte. Sie zählte, wie es Walter in jedem seiner Briefe aus Kenia flehentlich empfohlen hatte, die Gepäckstücke. Die Kisten mit dem Hausrat und die Schrankkoffer mit der Garderobe für die ganze Familie hatte die Firma Dan-ziger schon vor vier Wochen zum Hamburger Hafen verschickt. »Machen Sie sich bloß keine überflüssigen Sorgen, gnädige Frau«, hatte der freundliche Mann beim Abholen des Umzugsguts gesagt, »von vier Kisten geht höchstens eine verloren. Das erleben wir immer wieder. Darauf können Sie bauen.«
Die drei großen Koffer für die Schiffsreise und Inas kleiner Handkoffer für den Dreitageaufenthalt bei Onkel Thomas und Tante Betty in Hamburg waren gut im Abteil verstaut, alle beschriftet mit Jettels schöner, deutlicher Handschrift, für die sie in der vierten Klasse einen Preis bekommen hatte. Im Gepäcknetz lag die runde Hutschachtel - ein Prachtstück aus feinem schwarzen Leder, an den Nähten gelb eingefasst. Jettel schaute die geliebte Begleiterin der unbeschwerten Tage zärtlich an; obgleich ihr nicht danach zumute war, lächelte sie. Wieder einmal hatte sie in ihrer Ehe das letzte, das entscheidende Wort gehabt. »Nimm nichts Überflüssiges mit«, hatte Walter mehrmals gemahnt, als er seine Frau endlich am Packen und bei den herzzerbrechenden Entscheidungen wusste, welche Sachen für Afrika geeignet waren und welche zurückgelassen werden mussten. »Deine geliebte Hutschachtel wirst du in diesem Leben ebenso wenig brauchen wie das Rosenthal-Service. Denk immer dran, dass wir uns von ganz anderen Sachen als von Blümchengeschirr und Hütchen haben trennen müssen.«
Selbstverständlich lag das Rosenthal-Geschirr in der Kiste. Und was konnte ein Mann, der aus der Kleinstadt stammte und nun in einem Kaff namens Rongai hinter Hühnern und Kälbern herlief, schon von dem Verhältnis einer Frau zu ihrer Hutschachtel wissen? Schließlich war die Hutschachtel, ein Geschenk von Tante Fanni zum einundzwanzigsten Geburtstag, schon mit auf der Hochzeitsreise gewesen, obwohl Jettel im Nachhinein eingestehen musste, dass eine Frau, die im Riesengebirge Schlitten fuhr, keine Hüte brauchte.
Die Gepäckträger hatten sich zurückgezogen, die Reisenden waren eingestiegen. Nur wenige zog es an diesem Tag nach Norden. Die großen Ferien hatten ja noch nicht begonnen, und zudem gönnten sich nicht mehr so viele Leute wie früher Sommerferien an der See. Es hieß allgemein, die Deutschen bevorzugten kürzere Reisen und hätten die Freuden des Landlebens entdeckt. Das war im Frühsommer 1938 die gängige Umschreibung für den Umstand, dass den Leuten nicht mehr so wie in unbeschwerten Zeitläuften der Sinn nach Sommerferien stand - mit Ausnahme der Erwählten, die als politisch zuverlässig galten. Dank der Naziorganisation »Kraft durch Freude« durften sie die Dampfer ins Ausland und die deutschen Bäder stürmen.
»Ihr werdet wahrscheinlich so ungestört reisen wie noch nie im Leben«, hatte Heini Wolf beim Abschiedsessen für Jettel in der Goethestraße gesagt. »Ein wenig beneide ich euch ja doch um die Abwechslung. Die Strecke nach Hamburg war immer eine meiner Lieblingsrouten.« In den Monaten seit Walters Abfahrt hatte Inas treuer Hausfreund seine angeborene Fähigkeit, nicht einmal in Gegenwart von Schicksalsgenossen zur Kenntnis zu nehmen, was er sah und hörte und was ihn bedrohte, zur Vollkommenheit getrieben. Dass es Heinis betagte, herz-kranke Mutter war, die sich weigerte, auch nur ans Auswandern zu denken und also auch den Sohn an Deutschland fesselte, wusste kaum einer. »Mama hat immer die richtigen Entscheidungen getroffen«, schwindelte Heini seinem Verstand und seinem Instinkt vor.
Ina, Jettel und Regina saßen in einem Nichtraucherabteil zweiter Klasse, unmittelbar hinter dem Speisewagen -auch die zweite Klasse war eine Entscheidung Jettels. Mit der Frage, ob sie mutig oder mutwillig war, mochte sie sich nicht aufhalten. Allerdings hatte sie beschlossen, Walter nicht zu beunruhigen und ihm die erhöhten Fahrtkosten zu verschweigen. Immerhin war er ja dritter Klasse gefahren und erwartete das Gleiche von ihr. »Ich kann dir an Eides statt versichern, meine geliebte Jettel, dass Sparen nicht wehtut«, hatte er aus Genua geschrieben. »So viel wie mit meinem Hintern kann ich in der gleichen Zeit gar nicht mit meinem
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