Nur die Liebe bleibt
Kopf verdienen. Jedenfalls nicht mehr.« Vorerst jedoch sah Jettel das Leben und sich aus der gewohnten Perspektive. »Als ob ich auf meiner letzten Reise in Deutschland dritter Klasse fahren würde«, beschwerte sie sich bei ihrer Mutter.
Für eine Reise aus so deprimierendem Anlass waren Großmutter, Mutter und Kind zu elegant und zu auffällig angezogen. So kam es, dass sich Jettel ausgerechnet im Moment der Abfahrt gegen Walters Stimme wehren musste. Enervierend deutlich hörte sie ihn sagen: »Chuzpe ist kein guter Ersatz für Verstand und Geschmack.« Es war ein Spruch seiner Mutter. Zu Beginn ihrer Ehe hatte Jettel ihn noch nicht einmal verstanden. Später pflegte sie zu entgegnen: »Breslau ist nicht Sohrau. Wir haben immer auf Stil gehalten.«
Ina, seit einem Monat zweiundfünfzig Jahre alt, so schlank wie ein junges Mädchen und mit kaum einem grauen Haar, trug ein cremefarbenes Reisekostüm aus Leinen, ein Sträußchen aus echten Veilchen am Revers und um den Hals die zweireihige Perlenkette, ohne die sie nie ausging und die Regina noch in ihren Bildern malen würde, als sie sich weder an Deutschland noch an das Gesicht ihrer Großmutter erinnern konnte. Jettel hatte ein rotweiß gepunktetes Seidenkleid mit Rüschen am tiefen Ausschnitt und Spitzen an den dreiviertellangen Ärmeln gewählt. Ohrringe und der Anhänger an einer goldgelben Kette, das Hochzeitsgeschenk ihres Schwiegervaters, waren aus Granat. Regina hatte ihr empfindliches hellblaues Flügelkleid mit den silbernen Knöpfen an. Weder Großmutter noch Mutter hatten es ihr ausreden können, auch nicht die Korallenkette, die sie beim Abschiedsbesuch in Sohrau von ihrer Tante Liesel bekommen hatte. Schon gar nicht hatte Regina auf den neuen Leinenhut verzichten wollen. Er war schneeweiß, hatte einen breiten Rand und stammte aus dem Ausrüstungsgeschäft für Tropenreisende am Wallgraben. Ursprünglich war zwischen Mutter und Tochter verabredet worden, dass sie ihn erst in Afrika aufsetzen durfte. »In Tanger«, hatte Heini Wolf dem Kind erzählt, »ist der erste afrikanische Hafen, in dem ihr anlegen werdet. Du brauchst also nicht lange ohne Hut herumzulaufen.«
Ina und Jettel blieben noch drei Tage - zweiundsiebzig quälende Stunden, um so zu tun, als wäre die Zukunft nicht anders als die Vergangenheit und der Abschied nicht von Dauer. Noch konnten sie sich nicht vorstellen, dass nach dem letzten Wort, nach dem letzten Kuss, nach dem Seufzer, den der Zurückbleibende schon nicht mehr hörte, die Sonne weiter jeden Morgen auf- und abends untergehen würde, und doch hatten sie begriffen, dass sie im Hafen von Hamburg nicht »Auf Wiedersehen« sagen würden. Das Wort war ein Hohn aus dem Mund derer, die sich von der Familie trennen mussten, wenn sie leben wollten. Selbst Reginas Puppen flüsterten »Leb wohl«, ehe sie schlafen gelegt wurden.
Zwei Puppen waren in den großen hellen Holzkisten verpackt und, wie es hieß, bereits unterwegs in das wunderbare Zauberland, von dem Regina nur in Gegenwart ihrer Mutter, der Großmutter und Tante Käthe reden durfte. Die Puppen Peter, Moritz und Friederike hatte sie ihrer Großmutter und der Tante hinterlassen - zur Gesellschaft, wenn kein Kind mehr da war, mit dem sie im Park spazieren gehen konnten und für das sie grüne Götterspeise mit Vanillensoße kochten. Fips der Affe und Puppe Josephine mit der dunklen Hautfarbe, den baumeln den goldfarbenen Ohrringen und dem Rock aus buntem Bast reisten als bewährte Schutzengel mit. Nicht im Koffer, in dem sich Schutzengel, die noch nicht einmal ihren Namen schreiben konnten, bestimmt gefürchtet hätten, sondern im Abteil. Bananen, Apfelsinenscheiben ohne Schale und vier Sahnebonbons, den Reiseproviant für Affe und Puppe, hatte Regina sorgsam in den immer noch nagelneuen Lederbeutel gepackt, der für den Kindergarten angeschafft worden war, der keine jüdischen Kinder mehr aufgenommen hatte.
Es stand fest, dass Jettel und Regina, Fips und Josephine, benannt nach der weltberühmten Tänzerin Josephine Baker, sich am 21. Juni auf der »Adolph Woermann« einschiffen würden. Das war ein Tag nach Jettels dreißigstem Geburtstag. Ina wollte noch am gleichen Nachmittag zurück zu Käthe nach Breslau fahren. Von ihren drei Töchtern würde ihr dann nur noch die Älteste bleiben. Die zweiundzwanzigjährige Suse, seit neun Monaten verheiratet, war in Boston gelandet. Sie schrieb zuversichtlich stimmende Briefe und flehte die Mutter an, sich »bloß nicht von
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