Nur die Liebe bleibt
der Schule zu tun hatte. Die Bäume schwankten, ehe sie dunkel wurden. Der Nakuru-See, der am Morgen von der Sonne vergessen worden war, hatte sich die Farbe zurückgeholt. Als rosa Wolken flogen die Flamingos in einen Himmel, der so blau war wie an keinem anderen Tag. Der Menengai war nicht mehr der grollend feindliche Berg, auf dessen Abhängen in der Dürrezeit höllenrote Buschfeuer loderten und mit Vernichtung und der ewigen Trennung von den Eltern drohten. Der gezähmte Berg glänzte in der Sonne und trug einen Helm aus einer durchsichtigen Wolke. Auch die Nakuru School auf dem Hügel war in ihre Schranken gewiesen worden. Bestimmt vom Muchau, dem Medizinmann. Der bewohnte zwei Hütten in Ol’ Joro Orok, obwohl er noch nicht einmal eine einzige Frau hatte. Weil er Regina verehrte, hatte er vor zehn Atemzügen das große weiße Schulgebäude eingeschrumpft. Nun war es so klein wie die Häuser in Liliput. Mit einer glühenden Zange waren dem Schloss des Schreckens die giftigen Krallen gezogen worden.
Um zu prüfen, ob sie tatsächlich ohne Auflagen frei war, wünschte Regina der Schule, deren Uniform sie noch trug und die sie geschworen hatte ihr Leben lang in Ehren zu halten, Feuer, Wasser und Sturm. Die mutige Verräterin lachte wie Goliath - vor dem Kampf mit
David! Dem Zwergenhaus, das sie schon nicht mehr sehen konnte, drohte sie mit der Faust; sie streckte die Zunge heraus, als wäre sie eine Vierjährige, die Phantasie und Wirklichkeit verwechselt.
Die neunjährige Regina, die genau wusste, wie weit ein Kopf auf Safari gehen durfte und wann er umkehren musste, um nicht in eine Falle zu geraten, wurde gewahr, dass der weiße Boxerhund sie beobachtete. Sie zwinkerte ihm zu, als er sie fragte, weshalb sie noch immer wie ein Kind, das nie von der Mutter wegdarf, weil es zu wenig Verstand mitbekommen hat, an der Tür stand. Noch wagte sie nicht, dem aufmerksamen Hund zu erzählen, dass sie im Rausch des Ferienglücks soeben ihre Schule verflucht hatte. Sie wusste ja nicht, ob jeder Hund wie Rummler war. Der hatte noch nie ein ihm von Regina anvertrautes Geheimnis verraten. Selbst nicht ihren Herzenswunsch, dass ihre Eltern lernen würden, so gut Englisch zu sprechen, dass keiner mehr auf die Idee käme, sie wären Deutsche.
Die Zeitung bewegte sich, erst langsam und leise, dann raschelnd schnell. Sogar ein wenig fordernd.
»Hallo«, sagte der Mann, der sie gelesen hatte, »wo kommst du denn her, Little Miss Muffet?«
Regina quietschte so vergnügt wie das erkältete Ferkel in »Alice im Wunderland«. Little Miss Muffet war so Englisch wie Plumpudding und die beiden Prinzessinnen im Buckingham Palace. Die kleine Miss trug weiße Kleider und hellblaue Spitzenhäubchen und hatte Angst vor Spinnen. Sie entstammte dem wunderbar unsinnigen Versen, die den reichen englischen Kindern von ihren Nannys vorgelesen wurden. Regina hatte Miss Muffet in den ersten sechs Wochen ihrer Schulzeit kennenge-lernt und in den darauf folgenden Ferien ein paar Mal probiert, die sechs Gedichtzeilen ihrer Mutter beizubringen, aber alle Lektionen hatten vorzeitig abgebrochen werden müssen. Jettel hatte sich im Englischen verheddert wie eine Fliege im Spinnennetz, und die Zungenstolperin hatte geseufzt: »Lieber sage ich sämtliche Strophen der Glocke auf und stehe dabei auf einem Bein.«
Der Mann, der Regina mit Little Miss Muffet verwechselte, war weder alt noch jung. Er hatte eine einschmeichelnde Samtstimme, die beim Sprechen in die Tiefe tauchte, und er betonte seine Worte sehr sorgsam. Sein Anzug war aus einem dichten schwarzen Stoff. Ein enger weißer Kragen umschloss seinen Hals. Regina fand, dass der Mann wie ein Geistlicher aussah. Er war auch einer
- unterwegs von Nairobi zu einer Missionsschule in Ol’ Kalau, die er nach den Schulferien leiten sollte. Regina hatte die Schule einmal gesehen. Sie hatte immer gehofft, dorthin zu kommen, denn Ol’ Kalau lag ja in unmittelbarer Nähe von Ol’ Joro Orok, doch ihr Vater hatte nicht mit sich reden lassen.
»Eine Missionsschule passt nicht für ein jüdisches Kind«, hatte er gesagt. »Du musst wissen, wohin du gehörst.« »Aber ich muss doch in der Nakuru School auch in die Kirche gehen.«
»Nur sonntags und nicht freiwillig. Das gilt als entlastend.«
Anders als der Pfarrer, der jeden Sonntag zur Abendandacht in die Nakuru School kam, der meistens gelb im Gesicht war, von Fieberschüben gequält wurde und nur vom Podium herab mit den Kindern redete, vermochte Reginas
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