Nur die Liebe bleibt
Mister Sloane den Waggon für die reisende Elite mit weißer Haut auf.
»Los«, drängte er. Die Erleichterung, die er spürte, als er die Tür des Waggons aufriss, machte weder sein Gesicht weich noch seine Stimme sanft. Als wäre ihm die ganze Zeit bewusst gewesen, dass Kinderarme noch nicht so belastbar sind wie die von Schiffsjungen, hievte er Reginas Koffer in den Eisenbahnwaggon. Die teure Breslauer Erinnerung stieß er mit dem Fuß in Richtung der beiden Abteile.
»Mein Gott«, wunderte er sich, »was schleppt ihr Mädels bloß durch die Welt?«
»Sorry, Sir«, entschuldigte sich Regina.
Das waren die letzten Worte, die sie im Jahr 1941 an Steven Sloane richtete. Seinerseits ersparte sich der Pädagoge jegliches Abschiedsritual. Mit einem flüchtigen Blick vergewisserte er sich, dass er weder Reginas Finger noch einen ihrer Füße eingeklemmt hatte. Zeitgleich entfiel dem Junglehrer seine Zusage an Mister Whidett, bis zur Abfahrt des Zuges seine ungeteilte Aufmerksamkeit der Schülerin aus Miss Charts Schlafsaal zu widmen. Der pflichtvergessene Bergfreund prüfte noch, ob auf die Tür des Waggons Verlass war. Dann verschwand er aus Reginas Leben. Sie wandte den Kopf ab, kreuzte die Finger und schloss die Augen, damit er, falls er sich umdrehte, nicht auf die Idee käme, sie würde ihm nachschauen. Die Taktik, Feinde kaltzustellen, ohne dass die dessen gewahr wurden, hatte ihr Owuor in den letzten Ferien beigebracht.
Zum ersten Mal in drei Monaten war Regina allein, befreit von Zwang und Furcht und Pflicht. Das bedeutete, sie brauchte mit niemandem zu reden, keinem zu gehorchen, sich für nichts zu entschuldigen, weder vor Miss Chart mit dem Rohrstock aus Bambus den Kopf zu senken noch sich vor den Mahlzeiten mit Klumpen im Porridge und kalt gewordenen giftgrünen Erbsen zu graulen. Regina Redlich aus der Klasse 4 b und vom Bett Nummer 24 im Schlafsaal fünf war nicht mehr eine kleine Schraube im Räderwerk der Nakuru School. Die Schülerin mit der blau-weiß gestreiften Krawatte, die ständig Heimweh hatte, musste sich nicht mehr bei Tag der Tränen schämen, die sie nachts geweint hatte. Ihr Heimweh war nur noch Erinnerung.
Regina trug wieder ihre Krone. In der Hand hielt sie ein goldenes Zepter mit einem Griff aus Rubinen, denn sie war die Alleinherrscherin von Ol’ Joro Orok. Ihr Thron war ein Pferd namens Creamcracker, ihr Kammerherr ein weißer Boxerhund, der Rummler hieß und der ihretwegen mit Owuor, ihrem Haushofmeister, von Rongai auf die Gibson-Farm nach Ol’ Joro Orok gelaufen war. Auf Regina I. warteten Vater und Mutter, gute Worte, schöne Scherze, Liebe und Wärme. Auf der Farm mit den blau blühenden Flachsfeldern und den weißen Pyre-thrum mit dem goldenen Dotter wussten alle Menschen, jede Kuh und jeder Hund und alle zweihundert Hühner, das Paviankind Blimey und die Rosen im Garten, die Wicken auf der Veranda und die Sonne am Himmel, dass der Name Regina, den die Lehrer von der Nakuru School nicht richtig aussprechen konnte, Königin bedeutete und dass sie eine war.
Regina presste beide Hände auf ihr Herz. Das konnte seine Freude nicht halten; es trommelte lauter als die Ngoma, die morgens in den Wäldern die Schauris der Nacht verkündeten. Als die Schläge ruhiger wurden und der Atem kühler, schob die Jubelnde den Koffer langsam vor sich her. Jedes Ächzen war Befreiung. Hin und wieder blieb Regina stehen und streichelte das braune Leder. Auf dem Weg in die Ferien war der Koffer ein
Freund. Er kannte Geheimnisse, von denen weder Vater noch Mutter wussten und wahrscheinlich noch nicht einmal Mungu. Wenn Regina mit Salz in der Kehle zu Schulanfang ihren Koffer packte, schämte sie sich des runden Aufklebers, auf dem in verschnörkelter Schrift »Adolph Woermann« stand. Die zwei Worte reichten, um sie auf einen einzigen Blick als Außenseiterin zu brandmarken. Kehrte sie jedoch zu den Ihren zurück, strich sie zärtlich über das vergilbte Papier mit den tänzelnden Buchstaben, denn der Aufkleber erzählte herrliche Märchen aus der Zeit, als Regina noch ein Kind gewesen war und sich mit einem Plüschaffen unterhalten hatte. Manchmal, wenn sie sich weit genug zurückträumte, roch Regina gar das Meer. Dann sah sie die Fliegenden Fische und ihren weißen Leinenhut in den Fluten versinken. Befahl sie ihren Augen nicht beizeiten die Umkehr, stand die Großmutter am Kai von Hamburg und winkte ihrer Lieblingstochter und ihrer einzigen Enkelin mit einem roten Chiffonschal zu. Es kam so
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