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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Mitreisender mit den Augen zu lächeln und Menschen dazu zu bringen, Dinge zu sagen, die sie nicht hatten sagen wollen. Schon weil er mit einem Hund reiste, der genau wie Rummler aussah, und weil Regina sehr ernsthaft erwog, ob der Mann nicht ein verkleideter Engel sein könnte, vergaß sie, dass sie schüchtern und zurückhaltend war. Vor allem vergaß sie, dass ein Kind fremde Menschen nicht mit Gerede belästigen durfte. Es sei denn, die Begegnung fände am Nordpol statt und die unbekannten Fremden hätten Frostbeulen im Gesicht und müssten rechtzeitig gewarnt werden. Ehe Regina überhaupt Zeit fand, sich zu überlegen, ob solche Verhaltensregeln auch für eine Reise in der Eisenbahn galten, folgte sie dem Drang ihrer Zunge. Die war am ersten Ferientag absolut nicht wie sonst, sondern so übermütig wie ein Fohlen und so ungehorsam wie ein junger Hund. Als wäre sie ein ganz gewöhnliches Keniamädchen mit der richtigen Konfession und flinken Beinen und nicht ein Refugeekind, das ausgerechnet aus dem Land stammte, das mit seinen Todesbomben Coventry vernichtet hatte, redete Regina ganz unbefangen mit dem Engelsmann. Erst erzählte sie ihm und seinem Hund von Rummler in Ol’ Joro Orok, und anschließend klärte sie beide recht umfassend auf, wie es dazu gekommen war, dass sie allein in die Ferien reiste.
    »Ich hab dich am Bahnhof in Nakuru gesehen«, sagte der Pfarrer. »War das ein Verwandter von dir, der dich zur Bahn gebracht hat? Er schien mir nicht gerade freundlich zu einem so netten kleinen Mädchen zu sein, wie du es bist.«
    »Er war auch nicht freundlich«, erwiderte Regina. »Aber mir hat das nichts ausgemacht. Er war ja nur ein Lehrer. Ich habe gar keine Verwandten.«
    »Keine Verwandten?«, wunderte sich der Pfarrer. »Jedenfalls nicht in Kenia«, murmelte Regina. Obwohl sie wusste, dass es sich für eine Schülerin der Nakuru School nicht gehörte, das zu tun, was sie tat, schaute sie beim Sprechen nur den Hund an.
    »Nicht in Kenia?«, wiederholte der Pfarrer.
    Es war noch nicht lange her, dass Regina gelesen hatte, Geistliche vermochten in die Herzen der Menschen zu schauen. Offenbar hatte der, der ihr gegenübersaß und, wie Owuor, alles Wichtige zweimal sagte, von Gott nicht die passenden Augen bekommen. In einem Moment voller Verlangen überlegte Regina, ob sie schwindeln und ihrem freundlichen Safarigenossen weismachen sollte, ihre Großmutter und Tante Käthe lebten in Südafrika und fädelten Perlenketten, und der Großvater und Tante Liesel wären nicht mehr in Sohrau, sondern in Australien. Besser noch in China. Von einem jüdischen Mädchen, das mit ihr auf der Nakuru School war, wusste Regina, dass sie seit zwei Jahren Großeltern in Shanghai hatte. Lotte Edelmanns Großmutter lebte in Pretoria und konnte von dort immer schöne Karten schicken, wenn Lotte Geburtstag hatte. Mit einem englischen Text! Die Versuchung, zu schwindeln und sich an dem wunderbaren Lächeln des schwarzen Engels und am Schwanzwedeln seines Hundes zu erfreuen, indem sie ihnen nichts von Deutschland erzählte, währte allerdings nur einen Augenblick. Dann schob sich eine Wolke vor die Sonne, und Regina besann sich, dass sie ihrem Vater versprochen hatte, nie zu lügen. Noch nicht einmal aus Not und in Angst.
    »Wenn wir uns auch keine neuen Schuhe leisten können und kein Auto«, pflegte er zu sagen, sobald die Rede vom
    Fluch und Segen des Lebens in Ol’ Joro Orok war, »so wenigstens einen anständigen Charakter.«
    Regina seufzte. Ihr Vater, der nicht sehr viel mehr vom Leben wusste als ein neugeborenes Kalb und den sie trotzdem so liebte, als wäre er der klügste, tapferste und reichste Mann der Welt, hatte leider nicht die Spur einer Ahnung von den Dingen, die wirklich zählten. Vor allem wusste er nicht, dass ein anständiger Charakter ebenso drücken konnte wie ein zu kleiner Schuh. Für ein Kind auf einer englischen Schule, das zugleich jüdisch und deutsch war, war ein anständiger Charakter eine riesengroße Belastung.
    »Hallo?«, wunderte sich der Geistliche. »Was um Himmels willen machen wir hier?« Seine Augenbrauen kletterten über den Brillenrand. Der Hund brummte Zustimmung.
    »Der Lokomotivführer wird müde sein«, verstand Regina, »oder seine Lokomotive. Maschinen sind wie Menschen. Sie wollen nicht gehetzt werden.«
    »Na, du bist mir eine. So schlau war ich in deinem Alter nicht. Du musst gute Lehrer haben.«
    »O ja, aber nicht in der Schule. Alles, was ich weiß, weiß ich von Owuor und

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