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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Abendgebet sprechen. Die von einer Fee im grauen Männeranzug mit wundersamer Güte und Verständnis Beschenkte hatte noch nicht einmal gewagt, sich zu bedanken. Nur vor der Direktorentür hatte Regina mit erhobener Rechten geschworen, selbst allen Teufeln dieser Welt würde es nicht gelingen, ihr das Geheimnis zu entreißen, wie sie in den Weihnachtsferien des Jahres 1941 nach Hause gekommen war. Am Abend, als das Licht im Schlafsaal gelöscht wurde, erwog die neunjährige Glücksmarie allerdings doch, Inge ins Vertrauen zu ziehen, aber die Versuchung währte nur zwei erregende Herzschläge lang. Noch vor dem dritten machte sich Regina klar, dass ihre einzige Freundin erstens zum Neid neigte und zweitens nicht an die Zauberkraft von Gebeten glaubte. Inge Sadler war kein gewöhnliches Refugeekind. Sie war stark, tapfer und selbstbewusst. Vor allem konnte sie es sich leisten, sowohl auf Mungus Weisheit als auch auf Gottes Beistand zu verzichten. Sadlers hatten eine eigene Farm und ein eigenes Auto, und ihre Tochter hatte keine Großeltern und keine Tanten, die in Deutschland zurückgeblieben waren.
    Der schönste Zug auf der Welt hielt bei seinem Erscheinen auf Stil. Er tauchte aus einer grauen Dampfwolke auf und fuhr donnerlaut in Nakuru ein. Am Bahnwärterhäuschen zitterten die Rosen, sanft schaukelten die Hibiskusblüten. Die graue Katze wurde aus Jagdträumen gerissen. Sie wölbte ihren Rücken zum Löwenbuckel und sprang fauchend in die Lore. »Tatsächlich«, sagte Mister Sloane, als ihm der Felsen der Anspannung von der Brust rollte. »Los, rein mit dir, aber ein bisschen fix! Wer weiß, wann der Zug weiterfährt.«
    Regina hätte ihn über das Verkehrswesen im kenianischen Hochland aufklären können. Sie hatte in den Ferien öfters mit Kinghorn in Thompson’s Falls auf den Zug mit der Post gewartet und derweil mit dem weißhaarigen Philosophen, der Kinder ebenso liebte wie Pferde, das Leben und die Welt analysiert. Deshalb wusste sie sehr wohl, dass Maschinen ebenso ihre Ruhe brauchten wie Menschen. Lokomotiven wollten langsam abkühlen, wie am Abend die Felsen. Lokomotivführer mussten Kopf und Rücken in der Sonne baden, ehe sie wieder Kraft genug hatten, ihre fauchenden Drachen über Berge und durch Wälder zu treiben. Zudem hatte so ein Lokomotivführer empfindliche Ohren und Zähne. Die Zähne wollten sich an kurzen, weißen Wurzeln kräftigen, den Ohren musste er nach dem Lärm vom Wind und den Rufen der Wildnis das Geschenk der Stille gönnen.
    Erst in den letzten Ferien hatte Kinghorn Regina unter einer Zeder am Bahnhof von Thompson’s Falls klargemacht: »Wer schnell fahren muss, will langsam leben.« Damals hatten die beiden zwei Stunden nach Ankunft des Zugs warten müssen, ehe die Post entladen wurde. Kinghorn hatte die zwei Stunden zu zehn Minuten geschrumpft. Er hatte Regina über Liebe und Ehe aufgeklärt. Dreimal war er verheiratet gewesen und hatte mit elf Kindern sein Leben geteilt, doch alle, Frauen und Kinder, waren verschwunden wie das Wasser in der Trockenzeit und das Sonnenlicht in der Nacht. Nun lebte er mit seinen Pferden und mit Choroni zusammen, einem Mann aus dem Stamm der Nandi, der ihn in den gestorbenen Tagen auf die Jagd begleitet hatte.
    »Los«, mahnte Mister Sloane. Als wäre er noch zu Hause in England und hätte eine Bahnhofsuhr im Blick, hetzte er mit Regina am Zug entlang. Ihre Beine waren zu kurz, um Schritt zu halten mit dem besten Sportlehrer, den die Nakuru School je auf ein Cricketfeld berufen hatte. Weil ihr Koffer schwer und die Sonne sengend war, atmete sie so laut, dass es die Vögel in den Bäumen hören konnten. »Pardon, Sir«, hechelte Regina.
    Wäre sie in der Schule so mutig gewesen wie in ihren fiktiven Ferienabenteuern, hätte die furchtlose Amazonenkönigin den Besitzer des viel bewunderten grünen Ford aufklären können. Hoch zu Ross oder mit einem gespannten Bogen vor der nackten Brust hätte sie den Trottel in Bergschuhen im barschen Ton darauf hingewiesen, dass der Waggon für Europäer unmittelbar hinter der Lokomotive und nicht am Ende des Zugs zu sein pflegte. Gerade dorthin aber trieb sie Mister Sloane. Den Koffer, auf den sie aufzupassen hatte wie auf einen Korb voll neugeborener Küken, weil er aus Breslau stammte und ihren Eltern also eine jener geliebten Erinnerungen war, von denen sie ständig sprachen, schleifte Regina mit großer Besorgnis und schlechtem Gewissen hinter sich her.
    Schließlich stöberte selbst der begriffsstutzige

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