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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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wahrhaftig nicht zu einem Austausch von Höflichkeiten auf neutralem Boden verpflichteten. Die schwarz gekleidete junge Frau nickte dem Elektrohändler zu. Obwohl sie leicht kurzsichtig war, entging ihr nicht, dass Greschek ihren Gruß erwiderte, ohne sie anzuschauen.
    Höchstens drei Sekunden tippte er an das Schild seiner Mütze. Tatsächlich war die freundliche Kopfbewegung von Walburga Schmolka ein grober Verstoß gegen die Vernunft und wider den Zeitgeist gewesen.
    »Ach«, murmelte die Walburga. Schon in der Schule war sie bekannt dafür gewesen, dass sie ein wenig langsamer dachte als die übrigen Kinder. Bei ihrer überflüssigen Entschuldigung schaute sie ausschließlich auf ihre schwarzen Schnürschuhe. Sie trug seit drei Jahren Trauer. Ihr ältester Bruder, der Hoferbe Hans, auf den jeder seiner vier Onkel so stolz gewesen war, als wäre er der eigene Sohn, war am dritten Tag des Polenfeldzugs gefallen. Vierzehn Monate später hatte es ihren Bruder Karl getroffen. Der Vater hatte ihn seiner guten Auffassungsgabe und einer etwas schwachen Konstitution wegen aufs Gymnasium geschickt. Beim Tod von Hans hatte er seinem zweiten Sohn ins Feld geschrieben: »Nun wirst du doch ranmüssen.« Von Karl war ausgerechnet an dem Tag, als die Familie eine Messe für ihn hatte lesen lassen, noch eine Karte aus Frankreich mit dem Text »Wir lassen es uns hier saugut gehen« gekommen. Der Vater hatte da bereits sowohl seine Sprache als auch seinen Lebenswillen verloren. Am darauf folgenden Sonntag, während seine Frau Gertrud, die Walburga, ihre zehnjährigen Zwillingsschwestern und die dienstverpflichtete Helferin aus Düsseldorf in der Kirche waren, erhängte er sich auf dem Speicher.
    Seit Allerseelen galt der Verlobte von Walburga als vermisst. Auch er war Hoferbe. Und ein flotter Tänzer, um den alle Mädchen seine Braut beneideten. Von seinem Kind, das im Sommer geboren werden würde, wusste bisher nur ein Frauenarzt in Ratibor. Zum großen Kummer der Schwangeren jedoch noch nicht ihre Mutter. Gertrud Schmolka ging nämlich nicht mit der Zeit und war absolut nicht davon zu überzeugen, dass der Führer jeden deutschen Erdenbürger willkommen hieß. Auch die in Sünde empfangenen.
    Die Mutter der beiden Kinder mit den grob gestrickten Wollmützen, die ihnen fortwährend über die Augen rutschten, so dass sie wie kleine Clowns aussahen, stammte augenscheinlich nicht aus Leobschütz. Greschek hatte die Frau noch nie gesehen. Zudem waren der schwarze Mantel mit dem grauen Pelzkragen, den sie trug, und der abgeschabte, prall gestopfte Tornister auf ihrem Rücken eine viel sagende Kombination. Grescheks Erfahrungen nach neigten nur Menschen aus der Großstadt zu solchen auffälligen Ungereimtheiten. Im dritten Kriegsjahr besuchten die Städter ja immerzu Verwandte auf dem Land, von denen sie in Friedenszeiten nicht viel Notiz genommen hatten. Im Erfolgsfall kehrten sie dann mit Schätzen der deutschen Scholle heim, die sie früher keineswegs als Delikatesse empfunden hatten. Auch an den Tischen der Begüterten, die selbst an Werktagen noch nicht auf ihr Tafelsilber und feines Porzellan verzichten mochten, galten nun der Speck und das Schweineschmalz vom Land, Plunze, Graupen und Zuckerrübensirup als standesgemäße Nahrung.
    Greschek hätte jede Münze, die er in der Tasche hatte, darauf gesetzt, dass die Hamstermutter nach Breslau unterwegs war. Verdrossen starrte er die beiden mageren Jungen an und diagnostizierte mit der Bosheit, die seine
    Seele von Jahr zu Jahr mehr wärmte, dass die schwächlichen Kerlchen so gar keine Ähnlichkeit mit den kräftigen blonden Burschen hatten, die auf Plakaten und in Zeitungsanzeigen als Deutschlands Zukunft präsentiert wurden. Obwohl die Kinder noch längst nicht in dem Alter waren, um die Blicke eines Zynikers zu deuten, spürten sie Grescheks Abneigung und klammerten sich scheu an den Tornister der Mutter. Deren Blick blieb in der Ferne, doch schon zwei Minuten später seufzte sie: »Gott sei Dank, da kommt unser Zug. Hoffentlich sitzen nicht zu viele Leute im Abteil. Das können wir nicht gebrauchen bei eurem Husten.«
    Greschek hatte das gleiche Bedürfnis nach Abgeschiedenheit - zumindest bis er umsteigen und nicht mehr befürchten musste, auf Leute zu stoßen, die ihn kannten. Er rechnete sich aus, dass er die besten Chancen auf einen günstigen Sitzplatz hätte, wenn er bei der Einfahrt des Zuges keine Zeit mit überflüssigen Rücksichtsbezeugungen vertat. Tatsächlich war er

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