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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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tun. Das letzte Paket indes hatte er in einer Flüchtigkeit, über die er noch nach Kriegsende grübeln sollte, ohne zu einer ihn entlastenden Erklärung zu kommen, doch mit seinem Absender versehen. Dieses Paket, in Beuthen aufgegeben, war drei Wochen vor Weihnachten als unzustellbar zurückgekommen. Als das geschah, drängte es Josef Greschek, von dem es hieß, er sei der größte Menschenfeind in der ganzen Stadt, zur Tat. Obwohl er da schon Vermutungen hatte, über die er noch nicht einmal nach einer halben Flasche Kümmelschnaps mit seiner Schwester gesprochen hätte, die immerhin noch 1933 die Sozis gewählt hatte, entschied er sich, unmittelbar nach Jahresbeginn nach Breslau zu fahren.
    Ein leeres Abteil im Jahr 1942 war ein Stück vom Himmel, war wie Leberwurst ohne Streckmittel, war wie echter Bohnenkaffee und wie warme Umschläge bei Leibschmerzen. Das Gefühl, von fremden Menschen und von allem, was sie sagten und sahen, verschont zu bleiben, versetzte Greschek in Hochstimmung. Er faltete seinen Mantel zu einem adretten Schlauch, legte ihn ins Gepäcknetz, nahm die Mütze ab und beschloss, die halb gerauchte Zigarre vom Bahnhof für schlechte Tage aufzuheben und eine frische anzuzünden. Sie stammte aus der Kollektion, die er regelmäßig von einem Tabakhändler in
    Ratibor erhielt. Der Mann hatte aus Gründen, die sein Leobschützer Lieferant nie hinterfragte, einen übergroßen Bedarf an Glühbirnen, elektrischen Kabeln und Taschenlampen und Greschek schon im ersten Kriegsjahr die Einsicht gewonnen, dass Zahlungen in Naturalien ebenso praktisch wie weitsichtig waren.
    Die Zigarre belebte Sinne und Stimmung. Einen kurzen Moment kam dem genussfreudigen Reisenden gar der Gedanke, die Glut stünde für Hoffnung und Zuversicht. Allerdings neigte Josef Greschek selten zu abstrakten Vergleichen und nie länger als drei Minuten zu Illusionen. Er schalt sich einen alten Esel und schaute sich um. Als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, holte er seinen Koffer unter dem Sitz hervor. Er sah sich abermals um, als er ihn öffnete. Schon der Anblick der Schmalzschnitten, die Grete ihm als Reiseproviant eingepackt hatte, machte ihm Appetit. Obwohl er allein im Abteil war, sagte er nur ganz leise: »Ah«. Er war gerade dabei, das erste der vier in Zeitungspapier gewickelten Päckchen aus dem Koffer zu nehmen, als er sich klarmachte, dass sein letztes Paket - und am Ende auch etliche davor
    - nicht in Breslau eingetroffen war. Er fragte sich, wie es überhaupt um die Versorgung von Ina Perls und ihrer Tochter stand, und es beschämte ihn sehr, dass er überhaupt nur erwogen hatte, eine der Schmalzschnitten zu essen. Er kam sich vor, als wäre er beim Diebstahl erwischt worden.
    Aus den Windungen des Gedächtnisses tauchte das Gesicht seines verstorbenen Bruders Waldemar auf, keck und fröhlich und mit dem nussbraunen Haar, das für den Kirchgang am Sonntag stets mit Butterschmalz gebändigt wurde. Zwei Wochen vor seinem Tod hatte der Vater seinen Lieblingssohn einen Höllenlump genannt und ihn wie eine alte Matratze durchgewalkt, weil er dem stummen Knecht, der ja nicht imstande war, den Sohn seines Brotherrn zu verraten, fünfzig Pfennig aus der Hosentasche gestohlen hatte. So behutsam, als wäre die Schmalzschnitte ein kostbares Erbstück, legte sie Greschek unter das zerschlissene Handtuch zurück, das über dem Zucker und dem Mehl ausgebreitet war. Er wollte gerade die Koffergurte festziehen, da entdeckte er die Zeitung. Grete hatte sie klein gefaltet und unter das Ersatzhemd gelegt.
    »Donnerwetter!«, murmelte er beeindruckt. Er war so gerührt wie nicht mehr seit der Nacht, als er sich mit der verdorbenen Wurstsuppe vom Bauern Kaminsky vergiftet und Grete die ganze Nacht an seinem Bett gewacht hatte - mit warmen Leibtüchern und Kamillentee. Eine Weile überlegte Greschek, ob er seine Grete nicht doch eines Tages heiraten sollte, wie ihm der Herr Doktor in den schönen Leobschützer Jahren so oft geraten hatte. Selbst noch am letzten Tag in Genua. »Eine anständige Frau verdient es, dass man sie anständig behandelt«, hatte er gesagt.
    Als sich Greschek aber auszurechnen begann, dass Hochzeiten auch dann Geld kosteten, wenn man niemanden einlud, und Ehefrauen ja auch recht kostenträchtig waren, beschäftigte ihn ein weniger aufwendiges Gedankenspiel; er nahm sich vor, bei seiner Rückkehr der guten Grete ausführlich zu schildern, wie wohl es angespannten Nerven tat, wenn ein Mann in der Bahn etwas zu

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