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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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lesen hatte.
    Die Freude und die milde Stimmung währten nur kurz. Bei dem überraschenden Fund handelte es sich ausgerechnet um »Das Illustrierte Blatt«, und das wiederum hielt Greschek für verdummend und für »Weiberkram«. Zudem war die Zeitschrift dreizehn Monate alt und total zerfleddert. Offenbar war sie von einem ganzen Familienverband gelesen worden - Leute, die, wie Greschek grimmig feststellte, augenscheinlich noch über ausreichende Fettvorräte verfügten, zumindest deuteten die entsprechenden Flecken darauf hin. Die gute Grete, die seit ihrem siebten Lebensjahr, als sie ihre sparsame Mutter um den Kauf einer Lesefibel angefleht hatte, nicht mehr auf die Idee gekommen war, Geld für Gedrucktes auszugeben, hatte die Illustrierte bestimmt irgendwo gefunden. Trotz seiner Vorbehalte holte Greschek die Brille aus seiner Jackentasche.
    Der größte Vorteil des »Illustrierten Blatts« war das Format. Selbst mit einer brennenden Zigarre in der Hand ließ es sich bequem halten. Ansonsten hielten sich die Redakteure an die Usancen der Zeit, ihre Leser nicht über Gebühr durch Nachrichten oder wirklichkeitsgetreue Fotos darauf zu stoßen, dass Krieg war. Den meisten Raum nahm eine Fortsetzungsserie ein, in der mit hämischen Formulierungen »das sittenlose Leben französischer Politiker« und der »unheilvolle Einfluss der Gebrüder Rothschild« auf die französische Innenpolitik geschildert wurden.
    Mehr Bezug zur Wirklichkeit hatten die Anzeigen, in denen sich propere junge Frauen um die Wäsche von Fronturlaubern bemühten oder sich gut gelaunt »an der Heimatfront« in Männerberufen bewährten. Typisch für die Versorgungslage waren drei Rezepte, das erste für eine Suppe aus Brennnesseln, das zweite für einen Steckrüben-auflauf ohne Fett und das dritte für einen Haferflockenkuchen mit Süßstoff und Kunsthonig. Obwohl ihm Steckrüben, Brennnesseln und Kunsthonig widerwärtig waren, wurde Greschek so hungrig, als hätte er zum Frühstück nicht zwei Doppelschnitten mit gerösteten Speckwürfeln gegessen. Er beruhigte seinen Magen mit einem Schluck Ersatzkaffee aus der Thermosflasche - der echte verließ aus Prinzip nicht sein Haus - und anschließend mit einer Dosis Bullrich Salz. Beim Blättern fand er die Doppelseite mit den Witzen. Die Karikaturen beschäftigten sich ausschließlich mit den Erfolgen der deutschen Luftwaffe. Resigniert legte Greschek die Zeitung weg.
    Die trüben Gedanken kehrten zurück und mit ihnen eine quälende Unruhe, wenn er sich vorzustellen versuchte, was ihn in Breslau erwartete. Das Abteil erschien ihm dunkler als bei der Abfahrt. Die Deckenbeleuchtung funktionierte nicht, ein eisiger Wind drang durch die Fensterritzen. Greschek befürchtete, er würde beim Umsteigen in Ratibor umso mehr frieren, wenn er sich schon im Zug die Wärme seines Mantels gönnte. Er verfluchte den Winter, den Krieg und Deutschland, und schließlich verfluchte er auch Grete, weil sie ihm am Morgen nicht den dicken Pullover aus Vorkriegswolle herausgelegt hatte. Später fiel ihm die Mutter vom Herrn Doktor ein, die ihren Kindern gepredigt hatte: »Warme Gedanken ersetzen einen Wintermantel«, und schließlich machte ihn die Vorstellung besonders melancholisch, dass sein einziger Freund nie mehr einen Wintermantel brauchen würde, aber höchstwahrscheinlich trotzdem nicht glücklich war.
    »Das ganze Leben ist beschissen«, fluchte Greschek. Er erschrak, als ihm aufging, wie laut er gesprochen hatte. Gefühlsausbrüche in öffentlichen Verkehrsmitteln konnten lebensgefährlich sein, doch er gab sich selbst Entwarnung, denn er sah niemanden, der ihn gehört haben konnte. Erleichtert schloss er die Augen. Mit der Routine eines Soldaten, der an der Front gelernt hat, bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Schlaf zu flüchten, nickte er ein.
    Wie er beim Blick auf die Taschenuhr seines Großvaters im Moment des Wachwerdens feststellte, hatten die Annehmlichkeiten der Weltflucht nur vierzehn Minuten gewährt. Als Grescheks Ohren von hohen Frauenstimmen und einem spitzen Ton verkrampften Gelächters in die Realität zurücktorpediert wurden und er gleichzeitig Augen und Mund öffnete, sah er das Fräulein Schmolka aus Hennerwitz in ihren Zähnen bohren. Zeitgleich entdeckte er die junge Mutter mit dem Tornister, die ihm am Bahnhof in Leobschütz aufgefallen war, ihre zwei käsebleichen Jungs, deren Mützen noch weiter ins Gesicht gerutscht waren als zuvor, und schließlich eine ungefähr vierzig

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