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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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als weitaus Ältester der kleinen Gruppe mit Abstand der Erste, der eine Zugtür erreichte, mit festem Schritt und drohender Miene. Ohne sich umzuschauen, was für die meisten Leute aus mannigfachen Gründen zu einer Reflexbewegung geworden war, hievte Greschek seinen Koffer in den Waggon. Das unauffällige Gepäckstück war wesentlich schwerer, als es aussah, wobei die optische Täuschung sowohl bewusst gewählt als auch von Vorteil war. In einer Gesellschaft, in der die Redensart von der Butter, die einer dem anderen nicht aufs Brot gönnt, traurige Realität geworden war, vermochten solche Überlegungen über das Scheitern oder das Gelingen eines Vorhabens zu entscheiden.
    In dem trügerisch kleinen Koffer des Josef Greschek waren außer einem Pfund Bohnenkaffee, drei Pfund Zucker, Mehl und einem gesalzenen Rinderbraten noch zwei Pfund Butter, Hülsenfrüchte, ein Mohnkuchen, vier Päckchen Harzer Käse und Gläser mit den nahrhaften Proben aus Gretes Küche, dazu Seife und Waschpulver -und, was Greschek nicht wusste und niemals zugelassen hätte, ein kleines Heiligenbild. Für Heini Wolf, der ja wahrscheinlich auch nicht mehr rechtzeitig aus Deutschland herausgekommen war, hatte Greschek drei Päckchen Zigaretten beigelegt.
    Er war selbst verblüfft, dass bereits das dritte Abteil, dessen Tür er aufriss, leer war. Erleichtert ließ er sich auf den Sitz fallen, zog seine dunkelgraue Mütze tief in die Stirn und verkroch sich in seinen Mantel. Es waren noch dieselbe Mütze und derselbe dicke Mantel, die es Josef Gre-schek auf seiner unvergessenen Reise von Breslau nach Genua ermöglicht hatten, je nach Bedarf und Stimmung der Wirklichkeit zu entfliehen. Den zweiten, noch engeren Bezug zu seiner Italienreise hatte der als Handlungsreisende verkleidete Wohltäter mit Bedacht gewählt. Obgleich ihm jede Form von Aberglauben fremd und Emotionen ebenso suspekt waren, war ihm kurz vor Weihnachten bei einem ihn sehr beunruhigenden Spaziergang durch den verschneiten Stadtpark der Einfall gekommen, am 8. Januar nach Breslau zu fahren. »Es ist dann auf den Tag genau vier Jahre her, seitdem ich mich mit dem Herrn Doktor aufgemacht habe«, hatte er seiner Grete erklärt.
    Die schweigsame Getreue hatte mit keiner Bewegung zu verstehen gegeben, dass sie die Erinnerungen an eine Reise, die sie damals so geängstigt hatte, dass sie weder essen noch schlafen konnte, mit ihm teilte. Sie hatte wei-ter Grescheks braune Strickjacke mit den Lederknöpfen geflickt und mit leicht geöffnetem Mund dagesessen, als wäre sie blöd und taub und gefühllos. Und doch hatte sie Wort für Wort registriert, was der Hausherr gesagt hatte, denn schon am darauf folgenden Tag begann sie, Mehl, Eier und Butter zu horten, um den Mohnkuchen zu backen. Die Idee, dem einzigen Freund, den er je gehabt hatte, durch eine Reise nach Breslau am Jahrestag seines Aufbruchs ins Exil nahe zu sein, hatte Greschek Tag und Nacht beschäftigt. Es war eine Herausforderung gewesen, die Vorräte für Frau Ina und ihre Tochter zusammenzubekommen, doch das Werk war ihm gelungen - wie ihm das meiste zu glücken pflegte, das das Organisationstalent eines Pfiffigen und den Mut eines Mannes erforderte, der nicht imstande war, sich dem Terror des Staats zu beugen.
    Greschek war, wie er den Redlichs versprochen hatte, unmittelbar nach Jettels Abfahrt nach Breslau gefahren, im Sommer 1938 noch unbekümmert und mit einem Korb voll ländlicher Produkte, die bei niemandem, der sie sah, ein besonderes Interesse erregten. Nach dem Brand der Synagogen jedoch und als die Verordnungen herauskamen, dass Juden die öffentlichen Parkanlagen, Theater und Kinos nicht mehr betreten durften, ihren Mieterschutz verloren, besonders gekennzeichnete Ausweise bekämen und nach acht Uhr abends nicht mehr auf die Straße durften, waren erst der Korb durch eine Aktentasche ersetzt und danach die Besuche seltener geworden. Zwei Monate nach Kriegsausbruch war Greschek das letzte Mal in die Goethestraße gekommen - morgens um zwei und im Schutz der Verdunklung. Danach hatte er sich nicht mehr getraut, die Ausgestoßenen aufzusuchen, sie jedoch regelmäßig auf dem Postweg mit Nahrungsmitteln und dem übrigen Bedarf des täglichen Lebens versorgt.
    Sein System der Nächstenliebe erschien ihm unfehlbar. Die Pakete in die Goethestraße hatte er ohne Absender verschickt und stets an verschiedenen Postämtern aufgegeben. Für manche war er eigens nach Gleiwitz gefahren, in Ratibor hatte er ohnehin öfters zu

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