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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Jahre alte Frau mit grauen Augen und ergrauendem Haar. Auch ihr Kleid war grau, doch es wurde durch das Mutterkreuz in Silber erhellt.
    In ungewohnter Schnelle überwand der einzige Mann im Abteil die Nachwirkungen des Schlafs. Sein Instinkt schlug Alarm; er starrte auf das in der Mitte des Frauenordens angebrachte Hakenkreuz, als hätte er zuvor noch nie eins gesehen. Mit leicht schief gehaltenem Kopf entzifferte er den rund laufenden Text »Der deutschen Mutter«, den er tatsächlich noch nie gelesen hatte, weil er sonst nie so nahe an gebärfreudige deutsche Mütter herankam. Angestrengt überlegte er, für wie viele Kinder das Mutterkreuz in Silber vergeben wurde. Die Frau, die er fixierte, verstand sich augenscheinlich nicht nur auf
    Kinder, sondern auch auf die Menschengattung, der sie einen solchen Segen zu verdanken hatte. Sie lächelte gar ein wenig, als sie Greschek anschaute.
    »Sechs«, sagte sie, »aber zweimal Zwillinge.«
    Das Fräulein Walburga sagte: »Oh«, und strich das Kleid glatt, das über ihren Leib zu spannen begann. Sie zerknüllte das feuchte Taschentuch in ihrer Rechten und stammelte, an Greschek gewandt und so landsmannschaftliche Verbundenheit herstellend: »Wir mussten den Soldaten Platz machen, mussten wir.«
    »Der Zug hat doch nirgends gehalten«, wunderte sich Greschek.
    »Sie sind ganz plötzlich aus einem anderen Abteil gekommen«, erklärte die Mutter der hustenden Jungen, »und da mussten wir alle aus unserem raus.«
    »Nicht alle«, stellte die Frau mit dem Mutterkreuz feinsinnig klar, »die beiden hübschen Pflichtjahrmädel durften bleiben. Zur Betreuung unserer tapferen Helden. Darauf haben die Jungs Anspruch, wenn sie auf Urlaub von der Front sind.«
    Greschek sah angespannt in die verschneite Landschaft. Obgleich er von Natur aus argwöhnisch gegenüber Fremden war, hatte er das Bedürfnis, der Frau zu signalisieren, dass er ihre Botschaft verstanden hatte. Nicht nur, dass die Mutterkreuzträgerin in der Terminologie der Zeit geredet hatte, sie hatte kein Schlagwort ausgelassen, das sie als eine Patriotin auswies. Und doch hatte sie aus ihrem Herzen keine Mördergrube gemacht - jedenfalls nicht für die, die Ohren hatten zu hören und Hirn genug, um zu verstehen. So etwas kam wahrhaftig kaum noch vor. Nicht in der Öffentlichkeit und bestimmt nicht oft bei Frauen. Ihnen wurde ja immer wieder geschmeichelt, sie würden für Deutschlands Zukunft das Gleiche leisten wie die Soldaten im Feld.
    Die Mutter der Kinder holte ein Stück dunkles Brot aus ihrem Tornister. Sie presste ihre Lippen zusammen, sägte zwei dünne Scheiben mit einem zu kleinen Taschenmesser ab und gab jedem Buben eine. Der größere fragte weinerlich: »Nur eine?«, und der kleinere schniefte. Fräulein Walburga sah es, schnäuzte ihre gerötete Nase in ein blau-weiß kariertes Tuch und holte ein ordentliches Stück Blutwurst aus ihrer braunen Reisetasche. Selbst Greschek, der seine wenigen weichen Momente für Menschen reservierte, die er kannte, war gerührt, dass die Schmolkasche so freigebig gegenüber fremden Kindern war. Schließlich hieß es doch immer, der Gram über den Tod vom Vater und seinen beiden Söhnen hätte die Frauen dort hart werden lassen. Hart wie Stahl. Die Walburga biss zu wie ein Pferd. In weniger als zwei Minuten hatte sie die ganze Wurst verputzt. Auch die Pelle. Zum Nachtisch aß sie einen Apfel, der selbst im Januar noch duftete. Beim Kauen schaute sie an den Kindern vorbei und zum Fenster hinaus.
    Die Frau mit dem Mutterkreuz schnalzte mit der Zunge. An ihrem Gesicht war abzulesen, was sie dachte. Sie stieß an Grescheks Arm. Ganz leicht und doch im richtigen Augenblick, als nämlich die Mutter ihren beiden Buben je eine Ohrfeige verpasste, weil sie einander geboxt hatten und der Ältere dem Fräulein Schmolka auf den Fuß getreten war. Auf dem Höhepunkt des Schrecks verschluckte das empörte Kindergeschrei jedes andere Geräusch. Die Frau, die Greschek angestoßen hatte, flüsterte nicht, doch sprach sie auffallend leise. »Fahren Sie nach Ratibor?«, fragte sie.
    »Nein«, erwiderte er.
    »So genau wollte ich es wirklich nicht wissen«, sagte sie nach einer Weile.
    Greschek gab eines der unbestimmbaren Geräusche von sich, aus denen allein Grete zweckdienliche Schlüsse über sein Befinden und seine Absichten zu ziehen wusste. Er kramte nach seinem Taschentuch, brauchte fünf Minuten, um es zu finden, und putzte dann mit einer Gründlichkeit seine Brille, die schließlich

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