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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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einem Lokal kurz vor der Karlsbrücke mit Riesenschnitzeln, anständigen Preisen und nicht ganz anständigen Frauen.
    Das Gebräu von Ratibor hatte einen gallenbitteren Nachgeschmack, dennoch stimmte die Farbe den freigebigen Spender melancholisch. Das Rot erinnerte ihn an das Puddingpulver, das er bis Kriegsausbruch regelmäßig für die kleine Regina nach Kenia geschickt hatte. Eine Zeit lang bemühte sich Greschek, sich an die Adresse der Farm zu erinnern, doch sie fiel ihm nicht mehr ein. Ebenso wenig wann und vom wem in Leobschütz das Gerücht aufgebracht worden war, Dr. Walter Redlich wäre von einem Löwen gefressen worden, seine Frau und sein Kind hätten die Briten nach Abessinien abgeschoben.
    »Das Gedächtnis wird immer schlechter«, brummte Gre-schek.
    »Haben Sie ein Glück!«, befand seine neue Reisebegleiterin. »Ein schlechtes Gedächtnis ist heutzutage ein Segen. Und ein Schutz vor Menschen, die von einem Dinge wissen wollen, die sie nichts angehen.«
    Sie saßen auf ihren Koffern und wärmten ihre Hände an den noch halb vollen Bechern mit dem Heißgetränk. Es mangelte ihnen an einem Pfefferminzbonbon, um den penetranten Geschmack von Saccharin zu neutralisieren, doch gnädigerweise fehlte es ihnen auch an der Ungeduld von Reisenden, die noch den größten Teil der Strecke vor sich haben. Zwei Jahre und vier Monate Krieg hatten die Menschen Geduld und Fatalismus gelehrt. Schweigend beobachteten sie, wie Walburga in einer Gruppe von Frauen mit Kopftuch und schweren Taschen untertauchte; beide dachten sie an die Blutwurst und den Apfelduft und den Neid im Abteil, für den sie gesorgt hatte; sie deuteten gleichzeitig ein Kopfschütteln an und tauschten stumm ihre Ansicht vom Bauernstand aus. Die Frau mit den beiden hustenden Kindern, von der Greschek in
    Leobschütz tausend Eide geschworen hätte, sie wäre unterwegs nach Breslau, war nirgends mehr zu sehen. Er war froh und kannte auch den Grund. Die Scheu vor fremden Menschen und die kranken, vollkommen absurden Phantasien, die sich aus zufälligen Begegnungen entwickelten, waren ein Phänomen der letzten Jahre geworden, das auch ihn, den gelassenen Nervenstarken, nicht verschont hatte.
    »Lästig wie eine Schmeißfliege«, raunte er in die eisige Luft.
    »Ja«, stimmte die Frau zu. Sie leckte den letzten Rest vom bitteren Heißgetränk aus und gab ihm den Becher zurück. »Das hat gut getan«, dankte sie.
    Am anderen Ende des Bahnsteigs hatte sich die Gruppe der Soldaten versammelt, für die die Frauen im Zug ihre Plätze hatten hergeben müssen. Es waren alles junge Kerle, doch keiner von ihnen sah aus, als hätte er sich je an der Blüte des Lebens erfreuen dürfen. Dennoch muss sich einer an seine Schulzeit und an Sangeslust im Ferienlager erinnert haben, denn er stimmte mit einem Gesicht, das für die Dauer eines Herzschlags Kindersicherheit widerspiegelte, das Lied »O du schöner Westerwald« an, aber die Melodie verebbte noch vor dem Ende der ersten Strophe. Die Kameraden tippten sich an die Stirn. Der Sänger wurde rot, bückte sich und kümmerte sich um seine Stiefel.
    »Arme Kerle«, sagte die Frau. »Urlaub im Krieg bedeutet nie etwas Gutes. Mein Ältester ist auch bald dran.« »Mit Urlaub oder mit Krieg?«
    »Mit beidem.«
    In der ersten Stunde ihrer gemeinsamen Wartezeit sprachen die Frau und Greschek nur wenig und Belangloses.
    Als die Hälfte der zweiten Stunde verstrichen und der Zug nach Breslau immer noch nicht gemeldet war, wurde ein weiteres Charakteristikum der Zeit evident: Hatten Reisende erst einmal ihre Angst voreinander überwunden, spürten sie manchmal eine Verbundenheit, die ihnen in den nervenzehrenden Schwebezuständen zwischen Aufbruch und Ziel eine beruhigende Sicherheit gab. Zunächst redeten die Reisegenossen über die Pflichten des Alltags, die immer fordernder wurden; sie waren sich einig, dass es kaum noch Möglichkeiten gab, ihnen wenigstens für ein paar Stunden zu entfliehen. Die Frau sprach viel vom Kino. Mit einer Betonung, die Greschek spontan zu deuten wusste, erzählte sie, dass sie ausschließlich heitere Filme mit viel Musik sehen wollte. »Und wenn schon Männer in Uniform«, lächelte sie, »dann höchstens die langen Kerle vom alten Fritz. Der verstand noch was vom Flötenspiel und von der Schönheit. Er ließ sich ja auch von einem Philosophen und nicht von einem Klumpfuß die Welt erklären.«
    »Meinen Sie Goebbels?«
    »Nein, Voltaire.«
    Greschek staunte über ihre Freimütigkeit gegenüber

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