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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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selbst ihm übertrieben erschien.
    »Wenn Sie zufällig nach Ratibor gefahren wären, um nach Breslau umzusteigen, hätte ich Sie gebeten, mir in Ratibor mit meinem Koffer zu helfen. Meine Tasche ist schon bleischwer.«
    »So«, sagte Greschek. Er dehnte die eine Silbe zu bedeutungsvoller Länge aus. Die Intuition dieser Frau verblüffte ihn. Gerade deshalb wurde er noch misstrauischer als sonst. Er überlegte, ob es nicht sehr unklug wäre, mit einer fremden Person, von der er nicht mehr wusste, als dass sie sechs Kinder und zwei zu schwere Gepäckstücke hatte und die für seine Begriffe ziemlich forsch war, über sein Reiseziel zu sprechen. Bestimmt würde sie es nicht dabei belassen, dass sie wusste, wohin er fuhr. Die meisten Frauen kamen ihm vor wie Hunde, die einen Knochen ergattert hatten: Wenn sich so ein Köter erst einmal festbiss, ließ er freiwillig nicht mehr los. Andererseits erschien es dem vermeintlichen Kenner der weiblichen Psyche, der einen Horror vor unvorhergesehenen Begegnungen jeder Art hatte, vielleicht doch von Vorteil, mit jemandem zu reden, der sich höchstwahrscheinlich in Breslau auskannte. Die Leute erzählten ja immer wieder, der Krieg hätte auch Städte verändert, auf die noch keine
    Bomben gefallen waren. Greschek hatte seit seinem letzten Besuch bei Frau Ina den Kontakt zur Stadt verloren; erst auf der Fahrt zu ihr vergegenwärtigte er sich, dass er ja nicht einmal wusste, ob die Straßenbahnen noch ihre alten Routen fuhren. Vielleicht gab es auch bestimmte Zeiten, zu denen man besser nicht unter die Leute ging und schon gar nicht auf die Idee kam, Freunde zu besuchen, die einen gelben Stern auf ihre Kleidung nähen mussten, damit sie auf der Straße ein jeder als Juden erkannte.
    Greschek fröstelte. Er sah seine Schrift auf dem Paket, das aus Breslau als unzustellbar zurückgekommen war, und er sah, dass jeder einzelne Buchstabe ihn bedrohte. Für einen wahnwitzigen Augenblick spürte er nichts als das brennende Verlangen, am nächsten Bahnhof auszusteigen und den nächsten Zug zurück nach Leobschütz zu nehmen, doch noch in der Hitze von Scham, Niedergeschlagenheit und Zorn belebten sich seine Kräfte und Nerven. Er schaute die Frau mit dem Mutterkreuz so gelassen an, als hätte er sich die ganze Zeit mit ihr unterhalten, und er sagte noch einmal: »So« - diesmal, ohne ironisch die Silbe zu dehnen.
    Die junge Mutter verschwand mit ihren beiden verheulten Jungen in Richtung Toilette. Weil nicht allein ihre Kinder Durchfall hatten, kehrte sie lange nicht zurück. Walburgas offen stehender Mund und ihr Schnarchen machten Greschek kühn. Zu der, die ihn immer noch gespannt beobachtete, sagte er: »Ja« - nicht zu laut und nicht zu leise, im absolut natürlichen Ton, wie ein höflicher Reisender, der Auskunft über die richtige Uhrzeit g ibt .
    Die Frau nickte. Später lächelte sie und wurde gar gesprächig. Ehe der Zug in Ratibor einfuhr, erwähnte sie zwischen zwei Sätzen, die Zarah Leanders Film »Es war eine rauschende Ballnacht« betrafen, in Breslau würde sie ihr ältester Sohn von der Bahn abholen. Greschek war erleichtert. Menschen, die ein Stück Weg gemeinsam gingen, sich aber beizeiten voneinander zu trennen wussten, waren besser als andere gegen die Fallstricke des Schicksals gewappnet.
    Auf dem Bahnhof in Ratibor stand kein einziger Zug, noch nicht einmal ein Tender. Nicht das kleinste Stück Kohle lag herum. Auch kein Dienstpersonal war zu sehen. Ein älterer Mann mit einer schwarzen Augenklappe und einer Schiffermütze, wie Hans Albers sie trug, stand vor einem winzigen Holzkohlenofen und rührte mit einem langen Löffel in einem riesigen, verbeulten Blechtopf. Er bot ein rosa gefärbtes, künstlich gesüßtes Heißgetränk an. »Becher sind mitzubringen« hatte der findige Händler mit Rotstift auf ein Stück Pappe gemalt. Greschek holte die beiden ineinander verschachtelten Becher aus braunem Bakelit, ohne die ihn seine Grete seit Kriegsausbruch nie auf Reisen ließ, aus der Innentasche seines Mantels. Er ließ auch den kleineren Becher füllen, reichte ihn der Frau aus Breslau und wunderte sich sehr über seine Spontaneität. Seitdem er im Jahr 1935 in Prag nach einem üppigen Pilzomelette eine doppelte Portion Schinken in Brotteig und Marillenknödel zum Nachtisch gegessen hatte, hatte er keiner Frau mehr ein Getränk spendiert. Damals war allerdings die Anregung vom Herrn Doktor gekommen. Nach dem vierten Glas Budweiser und dem dritten Verdauungsschnaps. In

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