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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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einem Mann, den sie noch keine drei Stunden kannte. Angeregt von der Begegnung mit Walburga, die ja aus seinem Heimatdorf stammte, erzählte er - was ihn im Moment des Geschehens noch sehr viel mehr verblüffte als zuvor der unerwartete Bekennermut seiner Gesprächspartnerin - von der Hochzeit seiner Schwester in Hennerwitz. »Da hat ein Vetter von mir so schön auf dem Schifferklavier gespielt«, erinnerte er sich, »dass alle geweint haben. Auch der Kater und der Hund.«
    Keiner der beiden, die auf einem Bahnsteig in Ratibor auf
    Koffern voller Nahrungsmittel hockten, hätte bei flüchtigen Beobachtern den Verdacht erweckt, sie wären unzufrieden und würden sich nach den überschaubaren Zeiten zurücksehnen, als ein Pfund Butter noch ein Brotaufstrich oder eine Backzutat und nicht eine kostbare Währungseinheit auf dem Markt des Überlebens gewesen war. Als jedoch die Kälte immer weiter in den Körper kroch und das Hirn nicht mehr so auf der Hut war, wie es sich allzeit aus Gründen des Selbstschutzes empfahl, erweiterten sie das Areal ihrer rhetorischen Wanderungen und spitzfindigen Andeutungen. Schritt für Schritt tasteten sie sich in die urzeitlichen Regionen vor, in denen Menschen, die einander sympathisch fanden, sich ohne Arg unterhielten.
    »Ich dachte, als ich ihr Kreuz sah«, begann Greschek. Erschrocken kniff er die Augen zu. Hüstelnd gab er vor, er hätte sich verschluckt. Es grämte ihn, dass sein Hunger, die beißende Luft und das müßige Herumsitzen Schleusen geöffnet hatten, die er sonst fest geschlossen hielt. Vertrauensseligkeit war eine Falle, in die nur Narren stolperten. »Oder alte Weiber«, pflegte Grete zu sagen. Verdrossen stopfte er seine Zungenspitze in die linke Backentasche. Im wirklich allerletzten Moment gelang es ihm schließlich doch, den verräterischen Ansatz seiner Überlegungen in eine neutrale Richtung zu steuern. »Ich hab’ immer gedacht«, sagte er, »das Mutterkreuz darf gar nicht im Alltag getragen werden, sondern nur bei feierlichen Anlässen. Das habe ich mal gelesen. Irgendwo und ganz zufällig.«
    »Jetzt sagen Sie mal selbst, guter Mann. Gibt es einen besseren Anlass als eine Bahnreise? Dieser famose Orden auf meiner Brust berechtigt mich nämlich zu einem Sitzplatz. Deshalb trage ich mein Mutterkreuz ausschließlich in der Eisenbahn.«
    »Und das bringt Ihnen was?«
    »Warten Sie mal ab. Sie werden schon erleben, wie unser Vaterland seinen Frauen dankt.«
    Sie hatte, jedenfalls im Moment ihrer Beteuerung, zu viel versprochen. Als fünfzig Minuten später der Zug nach Breslau einlief, war er überfüllt und die Türen kaum von außen zu öffnen. Die Soldaten stürmten den Zug mit Stimm- und Ellbogenkraft, mit riesigen Tornistern vor ihrer Heldenbrust und mit den entschlossenen Mienen, die ihnen die Zeichner von Kriegspropaganda verpassten. Das Wort von der gebotenen Rücksicht auf die aufopfernden Menschen an der Heimatfront war nicht mehr das Papier wert, auf dem es überall geschrieben stand. Hätte nicht ein stämmiger Reichsbahner eingegriffen, wäre eine hochschwangere Frau auf die Gleise geschoben worden. Im Zug brüllte eine Kinderstimme gellend nach der Mutter. Die Schmolka Walburga mit den Äpfeln im Gepäck und dem traurigen Gesicht war wieder da. Das Gesicht schaute aus einem Abteil heraus, in dem ausnahmslos alte Frauen saßen, ihre Hände unter grob gestrickten Jacken verbargen und kauten.
    Greschek mutmaßte zu Recht, dass sie Äpfel aus Hen-nerwitz aßen, und er verfluchte die Schmolkasche bis in alle Ewigkeit. Er hatte seine neue Weggefährtin mit beiden Händen in den Waggon schieben und danach seine gesamte Körpermasse und zusätzlich beider Gepäck einsetzen müssen, um selbst in den Zug hineinzukommen. Aus Gründen, die er nie hätte in Worte fassen können und die ihm selbst nicht klar waren, lag ihm daran, nicht von seiner Reisebekanntschaft getrennt zu werden. Auch ihm, dem Einzelgänger, wurde in gewissen Situationen bewusst, dass sich das Leben besser zu zweit als allein an den Hörnern packen ließ. Schwer atmend schob er seine Reisebegleiterin vor sich her, als wäre sie ein Koffer. Sie ließ es geschehen. Es war lange her, seitdem sie die Kraft von Männerarmen gespürt hatte.
    In den muffig riechenden Abteilen gab es noch nicht einmal mehr Stehplätze. Sperrige Rucksäcke, kleine braune Kartons und prall gepackte braune Papiertüten, Einkaufsnetze mit Kartoffeln, Rüben und Kohlköpfen lagen in den Gepäcknetzen und unter den

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