Nur die Liebe heilt
ich mir kaum vorstellen, Laura“, entgegnete sie so sanft wie möglich.„Was Charlie getan hat, war ein großer Fehler. Finden Sie nicht, dass er Strafe verdient hat?“
Lauras Hände zitterten ein wenig. „Mein Sohn hat einen schrecklichen Fehler gemacht, ja. Aber er tut sein Bestes, das sehen Sie doch auch, oder nicht? Er hilft Ihnen mit diesem Mädchen, richtig?“
Mit diesem Mädchen , als ob es sich bei Taryn um irgendeine namenlose Unannehmlichkeit handelte. Als was würde sie wohl Layla bezeichnen? „Ja. Charlie war sehr geduldig mit Taryn, und sie hat sich immer gefreut, wenn er kam. Ich denke, seine Besuche waren hilfreich.“
„Am Anfang war ich nicht gerade begeistert davon. Ich dachte, es wäre ein Fehler. Und in gewisser Weise denke ich das noch immer. Ohne diesen Kontakt mit ihr hätte er niemals die Schuld auf sich genommen. Schon gar nicht gegen den Willen seines Vaters und seiner Anwälte.“
Da musste Evie ihr zustimmen. Zwar hatte sie Brodie gegenüber nichts dergleichen erwähnt, aber sie war davon überzeugt, dass Charlie durch seine Besuche erst richtig begriffen hatte, wie schwer verletzt Taryn war. Sie musste daran denken, was sie zu Charlie gesagt hatte, als er sie im Garten abgefangen und gefragt hatte, ob er Taryn besuchen dürfe.
Du kannst nicht länger weglaufen. Du wirst wissen, dass jede frustrierende Übung, die sie machen muss, jeder schmerzhafte Muskelkrampf, deine Schuld ist.
„Ich muss gestehen“, fuhr Laura fort, „dass Charlie seit ein paar Wochen irgendwie … anders ist. Ich kann es nicht richtig erklären. Er ist nicht mehr so rastlos, nicht mehr so überspannt.“
Evie dachte daran, wie verzweifelt er an jenem Morgen auf dem Woodrose Mountain gewesen war, und an ihre Angst, dass er sich etwas antun könnte. „Manchmal braucht man einfach nur ein Ziel. Vielleicht hat er erkannt, wie gut es einem selbst tut, wenn man anderen seine Hilfe anbietet.“
Die Worte blieben ihr fast im Hals stecken, als die Wahrheit ihr ins Gesicht schlug wie die Hantel, die Taryn von sich geschleudert hatte.
Sie war die schlimmste Heuchlerin der Welt! Sie hatte sich vollkommen in sich zurückgezogen und sich geweigert, anderen zu helfen. Sie hatte entschieden, dass es wichtiger war, sich selbst zu schützen, als jemals wieder einen anderen Menschen wirklich nahe an sich heranzulassen.
Oh, natürlich hatte sie so oberflächliche Dinge getan wie am Giving-Hope-Day den Zaun einer alten Nachbarin zu streichen oder Geld für die Layla-Stiftung zu sammeln. Doch bei all dem hatte sie immer streng darauf geachtet, sich niemandem wirklich zu öffnen.
Seit Cassies Tod vor zwei Jahren hatte sie ignoriert, was im Leben wirklich zählte – nämlich, sich selbst zu vergessen, indem man anderen half.
Sie selbst könnte auch ein Ziel gebrauchen. Oh, natürlich liebte sie ihre Arbeit im Schmuckladen. Aber war es nicht viel wichtiger, anderen dabei zu helfen, ein erfülltes Leben führen zu können?
Laura spielte mit der Drahtzange herum. „Letztes Jahr wäre er noch beinahe von der Schule geflogen, und jetzt redet er davon, für seine Fehler einstehen zu wollen, den Schulabschluss zu machen und dann auf ein College zu gehen. Auf einmal möchte er Medizin studieren. Das hat er mir gesagt. Er möchte Arzt werden oder Physiotherapeut, so wie Sie.“
Ich bin keine Physiotherapeutin mehr, wollte Evie automatisch beteuern, aber diese Worte kamen ihr auf einmal so schal vor. Sie arbeitete vielleicht nicht mehr als Physiotherapeutin, aber sie konnte nicht davor weglaufen, was ihr tief im Herzen wichtig war. Die Wochen mit Taryn hatten ihr doch aufgezeigt, wie sehr sie dieseArbeit noch immer liebte.
„Also, werden Sie es tun?“, fragte Laura.
Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf entgegnen sollte. Auf keinen Fall wollte sie Brodie hintergehen – wenn ihre Aussage vor Gericht für mildernde Umstände sorgte, würde er sie mit Sicherheit als illoyal betrachten. Auf der anderen Seite war sie einfach nicht sicher, dass eine harte Strafe wirklich das Beste für den Jungen war.
Schließlich seufzte sie. „Laura, ich werde vor Gericht nur von Charlies Besuchen erzählen und schildern, was genau er mit Taryn trainiert hat. Aber ich werde mich nicht dazu äußern, ob diese Tatsache seine Strafe beeinflussen sollte. Ich werde mich nicht für mildernde Umstände aussprechen, sondern nur die Fakten darlegen. Darüber müssen Sie sich im Klaren sein.“
Laura presste die Lippen zu einer dünnen Linie
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