Nur die Nacht war Zeuge (Mord Azur) (German Edition)
Ken Bernstein.
„Herr Drachmann war mit meiner Arbeit immer sehr zufrieden.“ Ken Bernstein hob beruhigend die Hand und wechselte das Thema.
„Anne-Sophie Marrais und Piet Drachmann verstanden sich nicht.“
„Die Frau hat Haare auf den Zähnen, wenn Sie wissen, was ich meine. Bei jeder Zahl will sie mitreden. Dabei hat sie nichts in der Richtung studiert.“
„Hatte Piet Drachmann etwas in der Richtung studiert.“
„Nein, aber er versteht was von Zahlen.“
„Lassen wir das“, sagte Ken Bernstein versöhnlich. „Wenn ich ihren Berg an Arbeit sehe, nehme ich an, dass sie auch des Öfteren Überstunden machen müssen. Hat Herr Drachmann Ihnen dann schon mal einen Whisky angeboten?“
„Ich mag das Zeug nicht und, ob Sie es glauben wollen oder nicht, Herr Drachmann trank nicht.“
„Langsam glaube ich es“, sagte Ken Bernstein.
„Die Agentur geht nach Nizza, hat man Sie aufgefordert mit nach Nizza zu gehen?“ Es war eine Routinefrage für Ken Bernstein.
Beinahe und keineswegs sprichwörtlich wäre der große Buchhalter mit seinen schlaksigen Knochen vom Stuhl gefallen. Die plötzliche Nachricht hatte eine ruckartige Bewegung in seinem Körper ausgelöst und die Rollen unterhalb des Stuhls in Fahrt gebracht. Ken Bernstein konnte ihn gerade noch auffangen.
„Die Agentur geht nach Nizza? Die hier?“, der Buchhalter zeigte mit seinem knöchrigen Zeigefinger auf den Teppichboden. „Wer hat das gesagt?“ fragte er wieder mit dem schiefen Blick eines Huhns, das seine Körner vor lauernden Feinden bewachte.
„Frau Marrais, sagte das gestern.“
„Das glaube ich nicht, die weiß hier nicht Bescheid.“
32.
Wie bei zwei ertappten Schülerinnen stoben die Köpfe von Yvonne und Christine auseinander, als Irina Honig im Türrahmen erschien. Das Engelsgesicht von Christine errötete weit heftiger als das ihrer Kollegin. Verlegen zupfte sie an einer der vielen blonden Locken, die ihr Gesicht umrahmten. Auf ihren Lippen stand die Frage: Was ist nun schon wieder passiert?
Yvonne hatte trotz ihrer Jugend die beruhigende Ausstrahlung einer verantwortungsbewussten Krankenschwester. Sie würde kein Medikament verwechseln, den Anweisungen des Arztes konzentriert lauschen, um sie dann mit ruhiger Hand und freundlicher Stimme durchzuführen. Ihr Haar trug sie energisch nach oben gebürstet, eine große, randlose Brille saß auf der kleinen Nase. Die Fingernägel ihrer schlanken Hände waren immer tiptop gepflegt und mit einem leuchtenden Rot lackiert. Yvonne war die ideale Sekretärin für einen ruhelosen, Kleinkram verachtenden Chef, sie war die ideale Sekretärin für Julien Villepin. Sie würde, das hatte sie bereits verraten, mit ihm in die neue Agentur wechseln.
Irina Honig stellte sich vor und beschloss, ihre Befragung bei der gefassteren der beiden beginnen.
„Pina Navaro ist keine sehr auskunftsfreudige Frau“, hob sie an zu sprechen. Die beiden jungen Sekretärinnen tauschten einen vielsagenden Blick aus.
„Vielleicht können Sie mir ein bisschen mehr über die Abteilung Beratung sagen, die nach Herrn Villepins Ausscheiden ausschließlich von Herrn Drachmann geführt wurde.“
„Ich bearbeite nur VMC Kunden“, sagte Yvonne leise, „und für die hatte Herr Drachmann keine Zeit. Frau Marrais, Herr Cabernet und ich haben uns seit dem Fortgang von Herrn Villepin um alles gekümmert. Herr Drachmann hat so gut wie nie mit mir gesprochen.“
„Er hatte es immer eilig, sehr eilig“, fügte Christine hinzu, die sich anscheinend ein wenig erholt hatte, “ich habe noch nie einen Chef gekannt, der so schnell durch die Flure lief. Der Mann ging nicht, er rannte.“ Christine kräuselte ihre junge Stirn. „Aber so viele Chefs kenne ich noch nicht“, fügte sie mit einem verlegenen Lächeln hinzu.
„Es gab viele Wechsel in dieser Abteilung, Herrn Drachmann konnte man es anscheinend nicht recht machen?“ fragte Irina Honig mit ermunterndem Blick zu Yvonne.
„Wir kannten Herrn Drachmann nicht so gut. Er soll sehr genau gewesen sein. Man musste das bringen, was er verlangte. Eigene Gedanken waren nicht erlaubt, sagte Monsieur Chagrin, die müsste man an der Garderobe morgens mit dem Mantel abgeben. Zu Monsieur Chagrin kann Ihnen Christine mehr sagen, sie war seine Sekretärin.
„Chagrin, schon der Name ist eigenartig, hat er viel „chagrin“, ich meine Kummer verbreitet?“ fragte Irina Honig amüsiert lächelnd.
„Monsieur Chagrin“, Christine rollte ihre
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