Nur dieser eine Sommer
imaginären Auflistung ab. „Was dann? Ach ja … die Küsse.“
„Klar, auf jeden Fall die Küsse. Meine Güte, was …“
„Hör auf, Cara! Du bringst mich um. Erspar mir die Details!“
„Sorry. Weiter im Text!“
„Noch mal von vorn: Mond, Gewässer, Sonnenuntergang, Boot, Küsse. Fehlt noch was?“
„Die Eltern. Oder der Betreuer im Sommercamp. Eins von beiden. Das habe ich auch zu bieten. Mama wartet tatsächlich immer auf mich. Und dabei bin ich vierzig!“
Emmi warf den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus. „Okay, du hast gewonnen, und zwar mühelos! Es ist ’ne Liebelei. Und? Glücklich?“
Bin ich glücklich? Ich wollte, ich könnte die Frage mit Ja beantworten, dachte Cara. Es war Mitte August; ein neues Schuljahr begann; die Touristen reisten ab. Die Zeit der Sommerseligkeit neigte sich rasch dem Ende zu. Was mochte der Herbst wohl bringen? Cara flößte der Gedanke Angst ein.
Dass der Sommer tatsächlich zu Ende ging, erkannte Cara schmerzlich an dem Morgen, als sie entdeckte, dass Lovie verschwunden war. Cara fiel auf, dass das goldlackierte VW-Cabrio noch draußen stand, und geriet beinahe in Panik. Sie eilte aus dem Haus und sah sich im Garten um: keine Spur von Lovie. Cara strich sich die Haare aus dem Gesicht und war auf einmal hellwach. Im Gegensatz zu Miranda litt Lovie nicht an gelegentlichen Demenzzuständen. Dennoch hatte Cara keine Ahnung, wann ihre Mutter wohl das Haus verlassen haben und wohin sie gelaufen sein mochte.
Das änderte sich, als sie bemerkte, dass auch der rote Eimer nicht mehr an seinem Platz stand. Schnell streifte sie das Nachthemd ab, schlüpfte in Shorts, Top und Sandalen und eilte nach draußen. In den Bäumen jubilierte ein ganzer Vogelchor, und der Sandpfad, über den sie zum Strand hastete, war kühl und feucht. Die Sonne ging gerade auf, als Cara den Strand erreichte.
Ihre Mutter stand am Ufer, eine zierliche, einsame Gestalt mit einem hellroten Eimer in der Hand. Das lange, weiße Nachthemd flatterte in der frischen Brise. Im trüben Rosa des Tagesanbruchs wirkte Lovie wie ein aufs Meer starrender Geist.
Cara näherte sich ganz behutsam, um Lovie nicht zu erschrecken. „Mama?“
Langsam wandte ihre Mutter den Kopf, und zu ihrem Entsetzen stellte Cara fest, dass Lovies Gesicht tränenüberströmt war.
„Was ist passiert, Mama?“ fragte Cara.
„Sie sind weg“, erwiderte Lovie. Ihre Stimme klang wie ein kraftloses Röcheln.
„Weg? Wer?“
„Die Loggerheads. Die Mütter. Alle fort, nach irgendwohin aufgebrochen. Ich fühle es. Es ist vorbei. Und ich vermisse sie jetzt schon.“ Ihre Unterlippe bebte; sie hob die Hand an den Mund, bemüht, nicht vollends die Fassung zu verlieren. „O Cara, sie fehlen mir so!“
Cara wusste nicht, wie sie ihre Mutter trösten sollte. Was hätte sie auch sagen können? Dass die Schildkröten doch im kommenden Jahr wiederkehrten? Davon hatte Lovie nichts. Sie fühlte genau, dass dies ihre endgültig letzte Saison war, dass die Loggerheads sich für immer verabschiedet hatten. Das war es, was ihr solchen Kummer bereitete.
Cara ahnte, dass ihre Mutter ebenfalls bald von ihr gehen würde. Tränen schossen Cara in die Augen. In den vergangenen zwei Monaten hatte Cara nicht wahrhaben wollen, was das Ende des Sommers letztendlich wirklich bedeutete, und es genauso verdrängt wie jegliche Gedanken an den kommenden kalten Winter.
„Ach, wie gerne würde ich mit ihnen ziehen“, flüsterte Lovie, den Blick nach wie vor auf die wogende Dünung gerichtet. „Könnte ich doch nur meinem Gefühl folgen und mich wie sie von der Strömung treiben lassen! Dann hätte ich es hinter mir. Wäre das nicht schön?“
„Noch nicht“, erwiderte Cara, der fast die Stimme brach. Sie schlang die Arme um ihre Mutter und drückte Lovie fest an sich. „Bitte, Mama, schwimm noch nicht fort.“
Lovie strich ihr übers Haar. „Dafür bist
du
ja noch da, meine eigene, geliebte Caretta, nicht wahr? Das ist mein einziger Trost.“
Dass sie nun ihre weinende Mutter in den Armen hielt, kam Cara wie ein sonderbarer Rollentausch vor, ganz so, als sei sie selbst die Mutter, stark und resolut, während Lovie, klein und wehrlos, die Tochter war – ein bewegendes und zugleich furchtbares Gefühl.
Und während um sie herum der Morgen anbrach, standen Mutter und Tochter in inniger Umarmung am Strand. Es herrschte gerade Ebbe, und das Wasser hatte Muscheln, Seetang und Schaumreste wie Unrat an Land zurückgelassen.
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