Nur dieser eine Sommer
Krankenhausbesuch – eine Strafe Gottes war, eine Art Fegefeuer als Buße für die Sünden der Vergangenheit.
Nicht, dass sie sich beklagen wollte! Die Liebe zu ihrer Mutter war stärker als jede Abscheu vor Krankheiten. Deshalb saß sie, während Lovie eine Vielzahl von Untersuchungen über sich ergehen ließ, niedergeschlagen auf ihrem Metallstuhl und wartete. Plötzlich kam ihr Toy in den Sinn. Welch hilfreicher rettender Engel das Mädchen all die Zeit gewesen war! Die Fahrten zu den Strahlenbehandlungen, das Warten, und alles trotz der Schwangerschaft, trotz der Erschöpfung, trotz der Tatsache, dass sie alle Nase lang zur Toilette musste. Und ich, dachte Cara, ich hetzte meinem Beruf in Chicago hinterher und hatte von allem keine Ahnung! Wenn es einen Himmel gab, dann musste er einen besonders schönen Platz für diejenigen bereit halten, die Kranke pflegten. Daran wollte Cara mit aller Macht glauben.
Nach zweieinhalb Stunden bat eine Arzthelferin sie zu Dr. Pittman hinein. Cara fuhr regelrecht vom Stuhl hoch und folgte ihr durch einen sehr engen Korridor ins Sprechzimmer. Bei ihrem Eintreten kauerte ihre Mutter, noch in den grünen Papierumhang gehüllt, auf der Untersuchungsliege und begrüßte ihre Tochter in unnatürlich fröhlichem Plauderton.
„Ja, sieh mal einer an, wer da kommt!“ rief sie aus. Ihre Augen funkelten.
Ihre Mutter verhielt sich krampfhaft optimistisch, was Cara auf der Stelle alarmierte. Sie schaute den Arzt an, einen sehr intellektuell wirkenden jungen Mann mit langem, ernstem Gesicht und einer Brille mit dickem Gestell. Dr. Pittman trug gerade etwas in die Krankenakte ein, blickte jedoch kurz auf und lächelte. Cara kannte ihn bereits von einem längeren Telefongespräch, das sie seinerzeit, als sie von Lovies Krankheit erfuhr, mit ihm geführt hatte. Allerdings war dies das erste persönliche Treffen.
„Nehmen Sie doch Platz, Miss Rutledge“, sagte er und zeigte auf einen Stuhl.
Cara lehnte dankend ab. „Ich stehe lieber“, entgegnete sie und stellte sich neben ihre Mutter.
„Also? Wie lautet Ihr Befund?“ fragte Lovie, auch diesmal wieder übertrieben fröhlich.
Dr. Pittmans Schweigen sprach Bände, und seine düstere Miene ließ Lovies bewusst zur Schau gestellten Optimismus dahinschwinden.
„Was wir heute entdeckt haben, gefällt mir gar nicht.“
Lovie wandte den Kopf und guckte ihre Tochter an, und Cara erkannte, dass hinter der Fassade übertriebener Fröhlichkeit in Wirklichkeit Angst steckte. Sie ergriff die Hand ihrer Mutter.
„Der Krebs hat sich schneller ausgebreitet, als wir vermutet haben. Insbesondere die Luftröhre hat er angegriffen. Das erklärt den ständigen Hustenreiz.“
„Käme eine Operation in Betracht?“ wollte Cara wissen.
„Die Luftröhre ist inoperabel. Die Metastasen sind bereits überall.“
Cara krampfte sich der Magen zusammen. Sie bemühte sich um Haltung. „Aber man kann doch sicher etwas unternehmen, Doktor?“
Er seufzte. „Man könnte eine erneute Strahlentherapie in Erwägung ziehen.“
„Nein.“ In dieser Hinsicht ließ Lovie nicht mit sich reden.
Dr. Pittman sah Lovie unsicher lächelnd an, klappte dann das Krankenblatt zu und wandte sich an Cara. In seine Zügen spiegelte sich so etwas wie Mitgefühl.
„Wir haben das Endstadium der Krankheit erreicht.“
Cara begriff, was das hieß. Tapfer hielt sie seinem Blick stand, dankbar für seine Aufrichtigkeit. Sie hätte es nicht ertragen, wenn er die bittere Wahrheit verschleiert oder beschönigt hätte. „Ich verstehe.“
„Ihre Mutter weiß, dass wir zu diesem Zeitpunkt höchstens noch ein Palliativum verabreichen und damit die Beschwerden lindern können.“
Lovie tätschelte Cara die Hand. „Dr. Pittman will damit sagen, dass man nichts mehr für mich tun kann.“
Dass er in dieser Situation noch lächelte, fand Cara bewunderungswürdig. „Wenn Sie damit weitere Behandlungsmöglichkeiten meinen“, fuhr er fort, „haben Sie Recht. Allerdings können wir sehr viel tun, um Ihnen die Beschwerden zu erleichtern, Mrs. Rutledge. Es ist absolut nicht einzusehen, warum Sie leiden sollen. Da Sie sich für den Verbleib in häuslicher Umgebung entschieden haben, werde ich dafür sorgen, dass Ihnen eine ambulante Krankenpflegerin zur Verfügung steht, die regelmäßig nach Ihnen schaut und ein Sauerstoffgerät bereithält. Für den Fall, dass Sie Schwierigkeiten mit der Sauerstoffversorgung haben sollten! Seien Sie nur nicht bescheiden, sondern machen Sie von den
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