Nur dieser eine Sommer
seufzte vernehmlich. Es war zwar noch nicht Abend, doch ein Drink hätte jetzt nichts geschadet. Sie erhob sich und ging Toy hinterher.
Kaum war sie aufgestanden, da läutete das Telefon. Um zu vermeiden, dass Lovie von dem Gebimmel geweckt wurde, eilte Cara rasch durch den Korridor und hob ab, behielt jedoch gleichzeitig Toy im Auge. Das Mädchen hatte die Arme über der Brust verschränkt und starrte aufs Meer hinaus.
„Hallo?“
„Lovie?“
Genervt blickte Cara zur Decke. „Nein, hier ist die Tochter.“
„Ja, Menschenskind, Cara! Ich bin’s! Emmi!“
Es dauerte etwas, bis bei Cara der Groschen fiel. „Was denn – Emmaline Baker?“
„Kennst du sonst noch ’ne Emmi auf der Insel? Mir wurde zugetragen, du wärst mal wieder im Lande. Aber du lässt ja nichts von dir hören! Eine feine Freundin bist du!“
„Entschuldige, Emmi! Ich war krank, und außerdem geht hier alles ein wenig drunter und drüber.“
„Klar, verstehe schon“, beschwichtigte Emmi. „Halb so wild. Was hast du denn heute vor? Ich würde mich gern mit dir treffen.“
„Herzlich gern!“ Versonnen lächelnd lehnte Cara sich gegen die Wand und versuchte, sich an Emmaline Baker zu erinnern. Wie lange mochte es her sein, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten? Zwanzig Jahre? Damals hatte Emmi, schlaksig, grobknochig und mit ihrem breiten, ständig lächelnden Mund, fast wie eine Doppelgängerin der Rock-Sängerin Carly Simon gewirkt. Am tollsten hatte Cara immer Emmis Haar gefunden, die wilde, feuerrote Lockenpracht, die sie bestimmt von ihren ungestümen schottischen Vorfahren geerbt hatte! Außerdem war Emmi ein kluger Kopf. Beide, Emmi und Cara, hatten nicht die gleiche Schule besucht. Jedes Jahr zu Ferienbeginn war das gleiche Ritual abgelaufen: Zeugnisvergleich! Meistens lagen beide im Notendurchschnitt gleichauf. Obwohl sie dicke Freundinnen waren, wurde auf diesen Wettlauf um die besseren Zensuren, der allerdings nie in Eifersüchtelei oder Missgunst ausartete, nicht verzichtet. Cara wusste stets: Spätestens im Juni stand der Notenvergleich mit Emmi an. Also setzte sie sich das ganze Schuljahr über auf den Hosenboden und steckte die Nase in die Lehrbücher. Ob Emmi sich wohl verändert hatte? War sie wohl nach wie vor so temperamentvoll wie damals oder mit den Jahren etwas gelassener geworden?
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass du jetzt auch bei den Schildkröten-Muttis bist“, scherzte Cara.
„Jawoll! Deine Mama hat mich am Ende doch noch rumgekriegt. Was sie allerdings dreißig Jahre gekostet hat.“ Beide glucksten amüsiert. „Entsinnst du dich noch, wie sie uns in aller Herrgottsfrühe immer zur Spurensuche auf Strandpatrouille schickte?“
„Ich weiß nur noch, dass uns das beiden auf den Wecker ging!“
„Apropos Schildkröten. Mir sind heute Morgen Spuren aufgefallen, direkt vor eurem Haus.“
„Ach, die kennen wir. Wir konnten heute Nacht die Eiablage beobachten. Mama hat die Stelle mit einem Muschelhäufchen markiert.“
„Echt? Mensch, super! Das nennt man Anfängerglück! Ich bin jetzt schon zwei Jahre dabei und hab das noch nie zu Gesicht bekommen. Gerissen, diese Loggerheads! Kommt Lovie denn nachher und prüft mit der Sonde nach? Sieht aus, als wäre das Nest an einer ziemlich guten Stelle.“
„Nein, sie kommt nicht. Mama fühlt sich heute nicht besonders wohl. Pass auf, ich habe einen Vorschlag: Ich mach mich selbst mit den Stäben und dem anderen Zubehör auf die Socken, und wir treffen uns dort. Dann darfst du mit deinen Fachkenntnissen angeben. Wir könnten außerdem mal wieder so richtig schön tratschen.“
„Wird aber auch Zeit! Ich habe schon befürchtet, du wärst mir die letzten zwei Wochen aus dem Weg gegangen.“ Sie schwieg einen Augenblick und fügte dann ernst hinzu: „Du warst zu lange fort, Herzchen!“
„Ich weiß. Alles klar, ich bin sofort da. Bis gleich!“
„Wetten, dass ich als Erste ankomme?“ Emmi hängte ein, bevor Cara auch nur einen Ton sagen konnte. Als Kinder hatten sie oft Wetten dieser Art abgeschlossen.
Als Cara den Hörer auf die Gabel legte, schnürte ihr die Rührung fast die Kehle zu. Emmi Baker! Im ganzen Leben hatte sie nur eine wirkliche Freundin besessen. Emmi war wie eine Schwester gewesen, der man getrost alles anvertrauen konnte, ohne befürchten zu müssen, dass sie es ausplauderte. Jemand, der einen verstand, schon bevor man den Satz beendet hatte, der alles Mögliche mit einem einzigen Blick ausdrücken konnte, der zu einem hielt,
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