Nur ein Augenblick des Gluecks Roman
ob sie eine Heldin für ihre Kinder gewesen war oder doch eher der Bösewicht. Sie wollte wissen, warum die Zeit ihr so schnell durch die Finger geronnen war; wie sie sich in einem Wimpernschlag von dem hübschen Mädchen im Zentrum aller Fotos zur alten Frau entwickelt hatte, die nur noch an den Rändern auftauchte; eingezwängt hinter Kindern und Enkeln.
Sie dachte zurück an ein Foto, das sie in eine Küchenschublade geworfen hatte, als sie und Robert damals in der Lima Street eingezogen waren. Immer hatte sie vorgehabt, es herauszunehmen und zu rahmen; doch es musste noch in derselben Schublade liegen, begraben unter den benutzten Gummibändern und stumpfen Bleistiften mehrerer Jahrzehnte. Das Foto zeigte sie am Strand in Santa Barbara. An ihrer Seite standen jeweils Barton und Robert, und sie selbst schaute hinunter auf Mitch, der zu ihren Füßen lag und lachend zu ihr aufschaute.
Beim Gedanken an Mitch wurde ihr klar, dass sie immer hatte wissen wollen, warum er sein Wort gehalten hatte: warum er nie wieder Kontakt mit ihr aufgenommen hatte, nachdem er damals in die Lima Street gekommen war, um
sie nach dem Verlust von Justin zu trösten. Sie fragte sich, ob Mitch aus einer Art Ritterlichkeit ferngeblieben war oder ob er sie einfach vergessen hatte, weil sie nach einer Weile nicht mehr wichtig genug gewesen war, um sich an sie zu erinnern.
Doch jetzt gab es, was Mitch betraf, ein neues, dringenderes Thema. Nämlich die Frage, was zwischen ihm und Robert am Flugplatz vorgefallen war. Hatte Robert Mitch gegenüber erwähnt, dass Justin an jenem lange zurückliegenden Halloweentag gezeugt worden war? Und hatte er ihm die Wahrheit über das erzählt, was mit Justin passiert war?
Sie trat an die Bordsteinkante und stützte sich an einer Parkuhr ab. In ihrem Kopf kreisten die Fragen. Falls Robert Mitch das Datum der Zeugung und die Wahrheit über Justins Schicksal verraten hatte, dann bestand die Möglichkeit, dass die Wahrheit über Justins Vater ans Tageslicht gekommen war. Die Möglichkeit, dass der Mann, der Justins Vater war, dahinterkam, dass Caroline ihm einen Sohn geboren und es zugelassen hatte, dass er diesem wohl niemals begegnen würde.
Der Gedanke, dass JustinsVater diese Dinge wusste, machte Caroline rasend. Er brachte sie dazu, sich umzudrehen und loszulaufen. Blind und ziellos. Direkt auf die Straße zu.
Sie hörte das schrille Läuten eines Cablecar. Und die Rufe von Passanten auf dem Bürgersteig.
Im Moment, als Caroline den Schritt über die Bordsteinkante machte, hatte sie gesehen, dass das Cablecar den Hügel hinab auf sie zuraste. Sie wusste, dass sie ihren Fuß hochheben und ein paar Schritte zurücktreten musste. Doch sie wusste auch, dass sie müde war. Müde war von Fragen, auf die es keine Antworten gab und müde vom Warten auf Wunder, die sich geweigert hatten, einzutreten. Sie wusste, dass
sie nach Justins Verschwinden Fotos in einem Notizbuch und Justins Geburtsurkunde in der Hoffnung verschickt hatte, dass sie ihn eines Tages zurück in die Lima Street führen würden. Sie wusste, dass sie 30 Jahre lang gewartet hatte; und dass er nicht gekommen war. Sie hatte den Glauben daran aufgegeben. Und das hatte sie müde gemacht.
Jetzt war abermals Halloween, und Caroline trug abermals ein cremefarbenes Kleid. Sie war eine junge Frau und eine ältere Frau gewesen. Sie hatte ihre beiden Töchter leidenschaftlich geliebt und schließlich endgültig verloren; sie hatte einen Mann geheiratet, einen anderen begehrt und einen dritten angebetet. Sie hatte 10 000 Mahlzeiten gekocht, eine perfekte Rose zum Wachsen gebracht und guten Wein mit guten Freunden getrunken. Sie hatte ihren Sohn verraten und auch den Mann, der ihr diesen Sohn geschenkt hatte. Und jetzt war sie müde.Viel zu müde, um ihre schmutzigen nackten Füße anzuheben. Um zurück auf den Bordstein zu treten. Und in ihr Leben.
Caroline spürte den Schmerz beim Aufprall des Cablecar. Doch er schien nur so lange zu dauern, wie sie von ihren ersten Tagen in Santa Barbara bis zu dieser Straße in San Francisco gebraucht hatte. Nur einen Augenblick lang.
JUSTIN
Middletown, Connecticut, Juli 2006
D ie Tür wurde von einer Frau in roten Sandalen und einem mädchenhaften Sommerkleid mit gerüschtem Rock geöffnet. Sie war klein und füllig, ihr Haar aschblond und glanzlos, und ihr Gesicht war vom Alter gezeichnet. Ihre Augen jedoch funkelten blau. Justin erkannte sie auf der Stelle. Es war Suzy Zelinski.
Einen Moment lang wirkte sie
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