Nur ein Gerücht
schließlich soweit war, ging alles ganz schnell. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, wir - meine Mutter und ich - sind nach München gezogen, wo meine Mutter ihren Mädchennamen wieder angenommen und auch für mich eine Namensänderung durchgesetzt hat.«
»Und Sie kamen auf eine neue Schule.«
»Ja.« Immer noch spürte ich die Erleichterung, die dieser Neuanfang damals für mich bedeutet hatte. »Anfangs wurde ich auch dort ausgegrenzt, immerhin war ich die dicke Neue, aber das gab sich mit jedem Pfund, das ich abnahm, und mit jedem Tag, der ins Land zog. Ich war so entschlossen, es zu schaffen, dass ich mir jede nur erdenkliche Mühe gab.«
Damals glaubte ich, alles Belastende, Unangenehme und Traumatische zurückgelassen zu haben. Meine Klasse, meinen Vater und Nadine.
»Diese Kränkungen, die Sie erlebt haben, gehen nicht spurlos an einem vorbei«, sagte er nachdenklich. »Wie sind Sie damit umgegangen?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen!«
»Natürlich wissen Sie das.« Sein Blick durchforschte mein Gesicht. »Die Botschaft, die Ihre früheren Klassenkameraden Ihnen mit auf den Weg gegeben haben, war eindeutig: So, wie du bist, bist du nicht beliebt. Haben Sie nicht aus dieser Erfahrung heraus später versucht, es allen recht zu machen, um Ähnliches nie wieder zu erleben? Schließlich möchte jeder Mensch gemocht und anerkannt werden. Sie machen mir nicht den Eindruck, als hätten Sie dieses Problem auf Kosten Ihrer eigenen Identität gelöst. Wie ist es Ihnen gelungen, diese sehr verständliche Sehnsucht nach Konformität zu überwinden?« Der Blick, mit dem er mich ansah, barg mehr als nur Interesse. Er verriet eine emotionale Beteiligung, die über bloßes Mitgefühl hinausging.
»Das, was ich Ihnen erzählt habe, könnte die unterschiedlichsten Fragen provozieren. Warum stellen Sie mir ausgerechnet diese, Herr Lehnert?«
Sein Blick wanderte übers Wasser, bevor er zu mir zurückkehrte. »Weil ich auch anders war. Weil ich weiß, was es heißt, in den Augen der anderen aus der Norm zu fallen«, antwortete er ruhig.
»Sie waren auch nicht beliebt?« Mein Lächeln katapultierte uns mühelos in ein gemeinsames Boot.
»Ich gehörte zu den so genannten weichen Jungs , die nur zu gerne verspottet wurden. Ich war sehr schüchtern, empfindsam, verletzlich und eher ängstlich. Wenn die anderen auf den Sportplatz gingen, habe ich gelesen oder gebastelt. Eine Zeit lang habe ich sogar mit Puppen gespielt, was meinen Vater zum Wahnsinn getrieben hat. Er wollte nicht, dass sein Sohn sich lächerlich macht, und er hat alles nur Erdenkliche versucht, um mich abzuhärten. Das bisschen Selbstbewusstsein, das meine Mitschüler übrig ließen, stampfte mein Vater in Grund und Boden. Ich habe Jahrzehnte gebraucht, um es wieder aufzubauen.«
Auf einmal spürte ich die Kälte nicht mehr, lebhafte Erinnerungen durchströmten mich. »Als wir damals nach München zogen, begann ich zu reiten. Die Pferde waren ein unbeschreibliches Glück für mich. Wenn ich nicht in der Schule war, saß ich auf einem Pferd. Ich lernte das Reiten sehr schnell und ich war gut darin. So gut, dass die Erfolge nicht auf sich warten ließen. Es war ein trügerisches Selbstbewusstsein, das ich dadurch gewann. Ich nutzte es nicht. Oder besser: Ich nutzte es nicht, um diese unstillbare Sehnsucht zu überwinden, es allen recht zu machen, bei allen beliebt zu sein. Ich war immer nett, immer freundlich, immer darauf bedacht, dass alle mich mögen. Und wann immer ich jemandem begegnete, der mich nicht gut fand, tauchte der alte Schmerz wieder auf. Bald war ich ständig krank. Ich hatte unerträgliche Migräneattacken, Herzrasen, Rückenschmerzen. Und das irgendwann so stark, dass ich nicht mehr reiten konnte.« Ich legte meine Hände links und rechts neben mich auf den Holzsteg und sog tief die Luft ein. Der Himmel hüllte sich mehr und mehr in Dunkelheit.
»Ich war vierundzwanzig und ein Wrack. Ein Jahr lang konsultierte ich einen Arzt nach dem anderen, bis einer so klug war, mich in eine psychosomatische Klinik einzuweisen. Als ich diese Klinik nach drei Monaten verließ, war ich sensibilisiert für die Tatsache, dass ich jahrelang meine Seele vergewaltigt hatte, dass ich dadurch nichts hatte ungeschehen machen können. Ich musste lernen, einen anderen Weg zu finden.«
»Darin waren Sie also auch erfolgreich«, meinte er schmunzelnd. »Mir gegenüber haben Sie jedenfalls nicht den Versuch unternommen, sich beliebt zu machen. Im
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