Nur ein Gerücht
Gegenteil. Ich fand Sie eine ziemliche Kratzbürste.«
»Das werte ich als Kompliment für meine Anstrengungen.« Ich ging auf seinen leichten Ton ein. Wozu härte ich erwähnen sollen, dass auch ein solcher Erfolg nichts gegen die Narben auszurichten vermochte, die zurückgeblieben waren. Er trug seine eigenen mit sich herum und würde wissen, dass sie sich immer wieder bemerkbar machten.
»Werden Sie Ihre Anstrengungen irgendwann auch darauf richten, Ihre Angst vor Enttäuschungen zu überwinden? Ihre Angst davor, verlassen zu werden?«
Jeden anderen Menschen hätte ich bei dieser Frage in seine Schranken verwiesen. »Das weiß ich nicht. Bislang habe ich nichts vermisst, ich lebe gern allein.«
»Das glaube ich Ihnen sogar. Ich bin auch kein Verfechter unbedingter Zweisamkeit. Aber man sollte frei wählen können. Angst macht unfrei.«
»Wie ist es, einen Mann zu lieben?«
Ich spürte, dass er mich von der Seite ansah. Aber es war zwecklos, seinen Blick deuten zu wollen. Es war mittlerweile zu dunkel dazu.
»Sagen Sie es mir«, erwiderte er sanft.
Ich ließ mir Zeit mit meiner Antwort. »Ich weiß es nicht«, sagte ich schließlich.
Nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, setzte er mit leiser Stimme an: »Ich kann Ihnen sagen, wie es ist, Ihren Vater zu lieben, Carla. Es ist ein Gefühl, das mich wärmt - bis in die hinterste Region meiner Seele. Es ist ein Gefühl, das für vieles entschädigt, das vieles wieder gutgemacht hat in meinem Leben. Und es ist ein Gefühl, das mir Kraft gibt, Geborgenheit und ein Zuhause.«
Seine Worte hatten eine seltsame Wirkung auf mich. Es war merkwürdig für mich, jemanden in dieser Weise über meinen Vater reden zu hören. Für meine Mutter war er ein Verräter, für mich der Schuldige. In all den Jahren war ich nie auf die Idee gekommen, dass er ein Mensch war, der geliebt wurde. »Und er?«, fragte ich. »Hat er durch Sie auch ein Zuhause gefunden?« Es fiel mir schwer, keinen Sarkasmus in meinen Tonfall einfließen zu lassen.
»Ja, das hat er.« Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Er hat dabei aber nie vergessen, dass er Ihres zerstört hat.«
Meine Mundwinkel zuckten, bevor sie sich nach unten bogen. »Vielleicht können Sie verstehen, dass er dafür keinen Dank von mir zu erwarten hat.«
»Dank sicher nicht, aber wie wäre es mit ein wenig Verständnis?«
»Das ist nicht Ihr Ernst, oder? Verständnis wofür? Dass er nicht anders konnte, als meine Mutter und mich in diese Situation zu bringen? Ich habe mir lange Zeit gewünscht, gar nicht geboren worden zu sein. Warum musste ein Mann mit seiner Veranlagung überhaupt ein Kind in die Welt setzen?«
»Weil er lange Zeit nichts von seiner Veranlagung wusste. Er war anders als ich. Er war einer von den harten Jungs . «
»Ich weiß nicht, ob ich das hören will!«
»Wollen Sie so kurz vor dem Sprung umkehren?«
»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass das nicht unbedingt die schlechteste Entscheidung sein muss.«
»Im Augenblick wäre es ganz sicher die schlechteste«, sagte er energisch. »Warum geben Sie sich nicht die Chance, ihn ein einziges Mal mit anderen Augen zu sehen?«
»Mit Ihren?«, fragte ich spöttisch. »Sie werden ihn mir als bedauernswertes Opfer darstellen, das mein Mitgefühl verdient. Und genau das will ich nicht. Ich habe meinen Vater lange Zeit gehasst, jetzt denke ich nur noch mit Groll an ihn. Das reicht an Gefühlen, mehr brauche ich nicht.«
»Mehr wollen Sie ihm nicht zugestehen. Sie haben Angst, möglicherweise einen Funken von Verständnis zu verspüren. Aber es ist natürlich viel einfacher, einem Egoisten zu grollen, der rücksichtslos seinem Vergnügen nachgegangen ist.«
»Und? War es nicht so?«
»Es ging ihm nicht um sein Vergnügen, es ging ihm um seine Identität. Sein Weg war ein anderer als meiner. Er war das genaue Gegenteil von mir: sportlich, selbstbewusst und draufgängerisch. Er war genau so, wie man sich einen normalen Jungen vorstellt. Er ging keiner Rauferei aus dem Weg und später auch keiner Affäre. Homosexuelle Sehnsüchte, die hin und wieder hochkamen, tat er als harmlos ab.«
»Harmlos ...«
»Ihrem Vater ist es erspart geblieben, sich bereits als Kind und als Jugendlicher als anders wahrzunehmen, dafür fiel es ihm sehr viel schwerer, sich später selbst als homosexuell und seine Ehe als Umweg zu identifizieren.«
»Muss ich jetzt Mitleid mit ihm haben?«, fragte ich höhnisch. »Ihr Vater, Carla, hat geheiratet, weil er
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