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Nur ein Gerücht

Titel: Nur ein Gerücht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kornbichler
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mein Vater das Versteckspiel nicht mehr aus. Er schenkte meiner Mutter reinen Wein ein. Für eine sehr kurze Zeit kehrte bei uns Ruhe ein, die beiden gingen sich aus dem Weg. Den Grund erfuhr ich erst später von meiner Mutter. Bis es soweit war, gab ich mich der Illusion hin, dass nun alles gut würde. Sie stritten sich nicht mehr. Wenn das kein gutes Zeichen war. Ich war so naiv!«
    »Sie waren ein Kind«, sagte Franz Lehnert sanft, als wolle er mich vor mir selbst in Schutz nehmen.
    »Ich war schon lange kein Kind mehr. Ich stand am Anfang meiner Pubertät, in dieser Phase, in der jedes Wort, jeder Blick auf der Goldwaage landet, in der Unsicherheit und Selbstzweifel sich mit dem Stolz, erwachsen zu werden, abwechseln. In der es an der Tagesordnung ist, sich missverstanden, nicht ernst genommen zu fühlen. Mein Vater nahm mich ernst«, sagte ich sarkastisch, »er meinte, mich nun endlich aufklären zu müssen über den Stand der Dinge in unserer Familie. Es reichte ihm nicht, sich meiner Mutter gegenüber zu offenbaren. Nur wem hätte ich mich offenbaren können? Meiner Mutter, deren Welt mit dem Geständnis meines Vaters in die Brüche gegangen war, die sich als Frau abgelehnt fühlte, die betrogen wurde mit einem Liebhaber, gegen den jeder Kampf aussichtslos gewesen wäre? Oder meinem Vater, der an manchen Tagen wie ein geprügelter Hund durchs Haus schlich, still und in sich gekehrt, an anderen wieder den Kopf hob und Entschlossenheit signalisierte? Entschlossenheit, seinem bisherigen Leben den Rücken zu kehren und von Stund an seinen Neigungen entsprechend zu leben.«
    Mein Blick folgte einer Ente, die tief übers Wasser flog und bei ihrer Landung die glatte Oberfläche des Sees durchbrach. Ganz allmählich verwischte die einsetzende Dämmerung die Konturen. Ich lauschte den Vogelstimmen und ergab mich für einen Moment dem Frieden, der sich über die Natur legte. Hätte er diesen Moment genutzt, um meinen Vater zu verteidigen, wäre ich aufgestanden und gegangen.

15
    G ab es niemanden, zu dem Sie hätten gehen können?«, fragte Franz Lehnert in die Stille hinein. Die kühle Luft, die vom See her wehte, ließ mich frösteln. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper. »Nein. Ich hatte eine Heidenangst, dass die Homosexualität meines Vaters herauskommen könnte. Was das für mich in der Schule bedeutet hätte, konnte ich mir lebhaft vorstellen. Also schwieg ich, arbeitete weiter an meinem Kummerspeck und flüchtete mich in Tagträume.«
    »Aber es kam trotzdem heraus, nicht wahr?« An seinem Tonfall war unschwer zu erkennen, dass ihm allein die Vorstellung zu schaffen machte. »War es Viktor?«
    »Nein, meine Mutter. Sie hatte sich in ihrer Verzweiflung einer Freundin anvertraut, ohne zu wissen, dass deren Sohn an der Tür lauschte und am nächsten Tag jedes Wort in meiner Klasse zum Besten gab. Er war einer meiner Klassenkameraden.« Ich atmete tief durch. »Es sollte ungefähr noch ein Dreivierteljahr dauern, bis meine Mutter und ich nach München zogen. Diese Monate waren für mich die Hölle, schlimmer als alles, was ich vorher erlebt hatte. Wäre all das heute geschehen, wäre man sehr schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen. Aber damals hatte die zunehmende Freizügigkeit der Gesellschaft die Kleinstadtbürger noch nicht erreicht. Es verging kein Tag, an dem ich das nicht zu spüren bekam.«
    »Hat Ihnen in Ihrer Klasse niemand beigestanden?«
    »Für kurze Zeit schon.« Ich dachte an Nadine, die, kurz nachdem die Homosexualität meines Vaters an der Schule publik wurde, in unsere Klasse kam. »Sie war auch eine Außenseiterin. Selbst gemeinsam waren wir nicht stark genug, um es mit dem Rest der Klasse aufzunehmen. Hinzu kam, dass sich damals fünf Schülerinnen und Schüler zu einer üblen Clique zusammengeschlossen hatten, die jeden schikanierte, der anders war.«
    »Und dagegen hat niemand aufbegehrt.« Seine Worte klangen, als würde er laut denken.
    Mein hartes Lachen klang selbst in meinen Ohren unangenehm. »Aufbegehren? Wogegen? Die fünf hatten sich nur zwei Außenseiterinnen vorgeknöpft. In den Augen der anderen war es nicht schlimm, was sie taten.«
    »Und mit Ihren Eltern konnten Sie nicht reden«, stellte er sachlich fest.
    »Meine Mutter hat wochenlang nur geweint, und mein Vater hat sich zurückgezogen. Ich war da, sogar unübersehbar in meiner Leibesfülle, aber sie haben mich nicht wahrgenommen. Meine Mutter hat lange gebraucht, bis sie zu einer Entscheidung kam. Als es

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