Nur ein Gerücht
hatte mit Streitkultur nichts zu tun. Sie zermürbten sich gegenseitig. Und ich litt darunter. Ich flüchtete mich in Tagträume, in denen mir schreckliche Unfälle widerfuhren, ich zwischen Leben und Tod schwebte und meine Eltern sich endlich um mich kümmerten. Oder ich ließ sie sterben und stand dann weinend an ihrem Grab, während ein liebevoller Mensch den Arm um mich legte und mich tröstete.« Ich zog die Knie an und umfing sie mit den Armen. »Ich glaube, es ist damals kein Abend vergangen, an dem ich nicht gebetet habe, meine Eltern mögen aufhören zu streiten. Beide waren häufig gereizt. Da blieb kein Raum, um sich mit meinen kindlichen Nöten zu befassen.« Franz Lehnert sah mich stumm von der Seite an. Ich spürte seinen abwartenden Blick.
»Und dann kam der Tag, an dem mein Leben wegen meines Vaters zur Hölle wurde«, sagte ich bitter. »Es war nachmittags. Meine Mutter war nach Hamburg zum Einkaufen gefahren, und ich war beim Nachhilfeunterricht, als meine Lehrerin einen Anruf bekam, dass ihr Sohn sich beim Hockey verletzt hatte. Sie schickte mich nach Hause.«
Meine Mundwinkel begannen zu zucken. »Die Tür war nicht abgeschlossen, was mich wunderte, da ich sie selbst verschlossen hatte, als ich ging. Ich nahm an, meine Mutter sei früher als erwartet zurückgekommen.« Ich sog scharf die Luft ein. »Dann hörte ich von oben die Stimme meines Vaters. Sie kam aus dem Schlafzimmer. Ich dachte, falls die beiden wieder Streit haben, verziehe ich mich in mein Zimmer und mache die Tür zu. Das hätte ich auch getan, wären die Geräusche, die aus dem Schlafzimmer drangen, nicht so ungewohnt für meine Ohren gewesen. So schlich ich auf Zehenspitzen zu der Tür und lauschte. Als ich eine zweite Männerstimme hörte, war ich zunächst nur überrascht - und neugierig. Vorsichtig öffnete ich die angelehnte Tür einen Spalt. Sie hätte es vielleicht nicht weiter irritiert, Herr Lehnert, aber ich war von einer Sekunde auf die andere wie gelähmt, als ich meinen Vater mit einem anderen Mann im Bett beobachtete. Trotzdem schaffte ich es irgendwie, unbemerkt in mein Zimmer zu gehen. Ich sehe mich noch dort auf dem Bett sitzen, die Hand vor den Mund gepresst, weil ich würgen musste, mich aber nicht traute, ins Bad hinüberzugehen. In diesem Moment fing ich damit an, alles hinunterzuschlucken.«
»Hat Viktor ...?«
Ich schüttelte den Kopf. »Er weiß bis heute nicht, dass ich ihn an diesem Nachmittag beobachtet habe. Irgendwann sind die beiden gegangen. Merkwürdigerweise habe ich das Geräusch der zuschlagenden Haustür noch heute in den Ohren. Während die beiden wieder an ihre Arbeit gingen, saß ich verkrampft auf meinem Bett. Ich war einem Gefühlschaos ausgesetzt, das ich nicht bewältigen konnte. Da waren Unglaube und Ekel«, erklärte ich ihm atemlos. »Ich schämte mich für meinen Vater, und ich litt mit meiner Mutter, die davon keinesfalls etwas erfahren durfte. Dann gab es Momente, in denen ich unglaublich wütend auf sie war, da sie von all dem anscheinend nichts gemerkt hatte und sich mit ihm über Nichtigkeiten stritt.«
Beim Erzählen war mir, als legte sich das Band, das ich seinerzeit um meinen Brustkorb gespürt hatte, wieder fest darum. »Damals fing ich nicht nur an, meine Sorgen und Ängste in mich hineinzufressen, sondern auch alles, was ich sonst noch an Essbarem fand. Seit dieser Zeit weiß ich, wie schnell man an Gewicht zulegen kann. Aus der bis dahin schlanken Carla wurde ein dicker Teenager. Und mit dick meine ich erwähnenswert dick.«
Ich begegnete Franz Lehnerts Blick und erkannte darin ein Mitgefühl, auf das ich keinen Wert legte. Ich wollte Abscheu darin erkennen. Wenn ich meinem Vater schon nicht direkt wehtun konnte, dann sollte es wenigstens über seinen Freund geschehen.
»Dadurch, dass ich nie ein wirklich glückliches und unbeschwertes Kind war«, fuhr ich fort, »fehlte mir die Leichtigkeit, um Freundschaften zu schließen. Ich war eine Einzelgängerin, deshalb hatte ich in der Schule noch nicht einmal jemanden, der sich mit mir gegen die Hänseleien hätte stark machen können, denen ich völlig unvorbereitet ausgesetzt war. Ich glaube, ich brauche Ihnen nicht aufzuzählen, mit welchen Worten man übergewichtige Menschen tituliert.« Sekundenlang schloss ich die Augen. »Man gewöhnt sich nicht daran. Jedes Mal, wenn ich diese Worte zu hören bekam, zuckte ich innerlich zusammen. Aber es sollte noch schlimmer kommen.« Ich lachte bitter. »Offensichtlich hielt
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