Nur ein Jahr, Jessica!
ich habe mir den Magen verdorben.“ Ich schleppte mich die Treppe hoch zu meiner Tür, schaffte es gerade, sie hinter mir zuzumachen, dann fiel ich aufs Bett.
Da blieb ich liegen, ich weiß nicht, wie lange. Endlich stand ich auf, zog mich aus und ging ins Bett. Gleich danach klopfte es an der Tür. Frau Frisch-Nielsen fragte, wie es mir ginge, ob ich etwas essen wollte oder ob ich vielleicht eine Kopfschmerztablette brauchte.
Ich nahm die Tablette nur, um die Gnädige wieder loszuwerden. Ich wollte allein sein – ja, wollte ich das eigentlich? Wäre es nicht schön gewesen, wenn die Tür plötzlich aufginge und Reni käme zu mir – oder Bernadette Grather?
Eine liebe, gute Freundin, an deren Schulter ich mich ausweinen konnte.
Aber niemand wußte, wie dringend ich eine solche Schulter brauchte. Niemand wußte, daß ich allein und unglücklicher als jemals in meinem Leben dalag – so einsam und so hilflos wie ein Menschenskind nur ist, wenn es alles, wirklich auch alles verloren hat. Wenn ihm der Boden unter den Füßen weggerissen wird.
Dieses Gefühl überwältigte mich. Unter mir lauerte eine tiefe, schwarze Dunkelheit, und in diese Dunkelheit der Verzweiflung sank ich – sank und sank….
Liebesleid
An Schlaf konnte ich nicht denken. Im Haus war es still und auf der Straße. Nur ab und zu, ganz selten huschte ein Auto vorbei. Nacht und Stille um mich!
Plötzlich stand ich auf, schloß die Tischschublade auf. Ich holte mir Falkos Briefe. Den ganzen Stoß, den ich hier erhalten hatte.
Ich las sie alle, las sie mit neuen Augen.
In der ersten Zeit waren die Briefe, wenn auch nicht gerade lang, so doch so unendlich liebevoll. Falko schrieb von seiner Sehnsucht, wie er die Wochen und Tage zählte, bis wir uns wiedersehen konnten.
Dann wurden die Briefe seltener, schneller, kürzer. Es waren Semesterferien, Falko hatte sehr viel an der Tankstelle zu tun. Da ein etwas längerer Brief. Er erzählte von einem netten Abend bei seinem Freund Reinhard und dessen Frau. Reinhard war ein junger Automechaniker, mit dem Falko sich sehr befreundet hatte.
„Ich gebe ihm Sprachunterricht“, schrieb Falko. „Er hat sich in den Kopf gesetzt, seine Schulkenntnisse zu ergänzen, und ich bringe ihm das bißchen Englisch bei, das bei mir hängengeblieben ist.“
Dafür half Reinhard ihm mit seinen technischen Kenntnissen.
Alles nett und gar nicht aufregend. Ein lieber, kameradschaftlicher Brief und mit den üblichen Schlußworten: „Einen ganz lieben Kuß, mein Jessilein, von Deinem Falko.“
Dann wieder ein paar ganz kurze Briefe, wo er nur erzählte, daß er bis tief in die Nacht hinein arbeitete und kaum zum Schreiben kommen konnte.
Warum arbeitete er bis tief in die Nacht? Davon sagte er kein Wort. Dann erwähnte er Reni.
„Soll Dich vielmals von Reni grüßen, sie tankte gestern bei uns, und ich leistete einen vorbildlichen Kundendienst. Theodors Scheiben wurden gewischt wie nie zuvor – damit wir etwas plaudern konnten. Sie ist wohlauf und freut sich schrecklich auf das Kind. Aber eine Schönheitskur ist die Schwangerschaft nicht, ihr Gesicht ist gedunsen, und die Haare sehen nicht mehr so lockig aus. Na, das wird ja alles anders werden, wenn das Kind da ist! Sie behauptet selbst, sie wird bestimmt Drillinge kriegen: ,Dann schicke ich einen nach Hirschbüttel, einen zu Euch und behalte einen selbst!’ Sie war in die Stadt gefahren, um Babywolle zu kaufen, erzählte sie. Gleichzeitig bat sie mich, auszurichten, daß sie sich auf die Strickkünste ihrer Freundinnen – auch der Deinen – verläßt, da sie sich nie mit Stricknadeln so richtig befreunden kann. Also, Jessilein, Du siehst, Deine Pflicht ruft.“
Das konnte ich mir denken. So hatte ich ein Jäckchen schon fertig, das dazu passende Strampelhöschen lag halbfertig hier auf dem Tisch.
Bei der Arbeit hatte ich mir immer vorgestellt, wie wunderbar es werden würde, wenn ich für mein eigenes Kind stricken sollte - für Falkos Kind…
Dann waren nur noch zwei kurze, kleine Briefe da, der letzte schon eine Woche alt. Nur ein paar Worte, daß er wie ein Verrückter arbeitete – aber keine Silbe über die Art der Arbeit.
Und jetzt – jetzt fuhr er irgendwo im Ausland herum, warum hätte er sich sonst das „D“ an den Wagen angeklebt – mit einer „dollen Biene“. Eine Sekunde fuhr es mir durch den Kopf: Hat er vielleicht Reni nach Hirschbüttel gefahren? Ach, Unsinn, die liebe gute Reni sah bestimmt nicht wie eine dolle Biene aus,
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