Nur ein Jahr, Jessica!
ihm hat! Man freut sich, wenn er einem entgegenläuft, wenn er dasitzt und Herrchen anbetend anguckt. Man freut sich, weil er hübsch aussieht und weil er einem gehört – ja, genauso ist es! Der Direktor nennt seine Frau immer ,Lieschen’ oder ,Püppchen’ oder ,Pusselchen’ – ich habe ihn nie ,Elise’ sagen hören. Und sie liebt ihn und nimmt immer Rücksicht auf seine Wünsche.“
Frau Grather nickte. „Sehen Sie! Wenn er sie nun die ganze Zeit so behandelt hat, wie hätte sie sich dann weiterentwickeln können? Das einzige, was sie lernte, hat sie von ihren Eltern. Sie hat doch bestimmt keinen Beruf gehabt! Dachte ich mir. Sie war also eine hübsche kleine Puppe, und als solche hat ihr Mann sie die ganzen Jahre über behandelt. Ich werde Ihnen was sagen, Jessica: Dem Mann könnte man Vorwürfe machen, der Frau nicht. Sie ist das, was er aus ihr gemacht hat – ein liebes kleines süßes Hündchen! Und wenn Anforderungen an ihr Denkvermögen gestellt werden oder an ihre Logik, dann versagt sie. Sie kann keine Schwierigkeit durchdenken, und sie kann keine Argumente aufbringen. Deshalb kriegt man nur diese hilflos-sturen Antworten. Glauben Sie mir, so wird es sein. Ärgern Sie sich nicht mehr über sie, Jessica. Versuchen Sie doch, ihr zu helfen! Es sind nicht nur kranke, arme oder alte Menschen die Hilfe brauchen! Es sind böswillige, geistig faule, seelisch vernachlässigte Menschen, die am dringendsten Verständnis und Hilfe nötig haben. Menschenskind, ist das eine Aufgabe für Sie!“
Ihre Augen hatten einen leuchtenden Ausdruck. Aus ihrer Stimme klang Wärme. Was war sie für ein wunderbarer Mensch!
„Ich werde es versuchen“, sagte ich kleinlaut. „Ich werde mir überlegen, in welchem Punkt wir uns begegnen und verstehen können. Das verspreche ich Ihnen. Wissen Sie, nach all dem, was Sie gesagt haben, habe ich jetzt das beschämende Gefühl, daß ich vier Monate meines Lebens ganz vergeudet habe. Was hätte ich alles machen können – oder jedenfalls, ich hätte es versuchen können, etwas Gutes zu tun!“
„Dann fangen Sie jetzt an“, sagte Frau Grather mit ihrem hübschen, warmen Lächeln.
Also fing ich an…
Als ich am Montagmorgen wie immer um halb sieben in die Küche ging, um mein Tagesprogramm zu beginnen, war ich noch von Bernadette Grathers klugen Worten und von meinen eigenen guten Vorsätzen erfüllt. Es ergab sich auch eine Gelegenheit, den ersten Versuch zu machen. Ich stellte nämlich fest, daß ich wohl oder übel ein neues Kleid kaufen mußte. Alles war mir zu eng geworden! Na, Mutti und Vati würden sich freuen, wenn ich ihnen erzählte, wie ich mich erholt hatte. Und Falko erst recht!
Als dann Frau Frisch-Nielsen erschien und mit ihrem gewöhnlichen Geplapper anfing, paßte ich auf, und bei ihrer ersten Atempause ergriff ich das Wort: „Wissen Sie, gnädige Frau, ich wollte Sie so gern um einen Rat bitten?“
„Mich?“ fragte sie und sah aus, als hätte ich sie um einen Vortrag über Elektrotechnik gebeten.
„Ja, Sie haben doch einen so guten Geschmack, und ich muß mir unbedingt ein Kleid kaufen, wahrscheinlich auch einen Rock, ich bin aus allem herausgewachsen. Sie können mir bestimmt sagen, wo ich hingehen soll, ich kenne ja die Geschäfte in Frankfurt nicht…“
Und ob sie das konnte! Sie wußte Bescheid über Geschäfte, über Stoffe, über moderne Dessins, über Farben, die mir stehen würden. Es war lustig, die Veränderung zu sehen. Zum erstenmal erlebte ich sie auf einem Gebiet, wo sie sich sicher fühlte.
Als ich dann äußerte, daß ich vielleicht selbst einen Rock ändern könnte, bot sie mir gleich ihre Nähmaschine an. Das hatte ich gehofft. Denn eines wurde mir klar, sollte ich ihr die Augen für die modernen technischen Hilfsmittel öffnen, müßte es über die Nähmaschine gehen!
Am folgenden Tag saß ich dann mit meinem aufgetrennten Rock vor der Wundermaschine. Frau Frisch-Nielsen ahnte nicht, daß ich gestern abend die Gebrauchsanweisung mit ins Bett genommen hatte und mir haargenau merkte, wie man Blindstiche und Knopflöcher und noch ein paar andere Sachen machen konnte.
„Aber Sie müssen doch zuerst heften!“ rief die Gnädige entsetzt, als ich den Stoff unter die Maschine legte.
„Das tue ich ja gerade“, erklärte ich. „Diese Kettenstiche kann man nachher eins zwei drei wieder entfernen.“
„Meine Mutter heftete immer mit der Hand“, gab sie zur Antwort.
„Ihre Frau Mutter hatte bestimmt keine so feine
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