Nur ein Jahr, Jessica!
Kiel, dann würde er mir schreiben. Lang und ausführlich, schmerzlich ausführlich.
Und ich? Was ist mit mir?
Ich sollte weiterhin kochen und plätten und mich um meine kleine hilflose Gnädige kümmern, ich sollte Geld sparen und im Frühjahr wieder mit dem Studieren anfangen. Ich sollte in der Mensa essen und Falko sehen, er würde mich kurz grüßen, würde vielleicht sagen: „Hallo, wie geht es dir, Jessi!“ Nein, er würde den Kosenamen nicht mehr gebrauchen. „Jessica“ würde er sagen. Und ich würde durch die bekannten Straßen gehen und vielleicht durch Zufall Falko treffen oder ihn vorbeifahren sehen – mit einem anderen Mädchen neben sich im Wagen.
Er würde nicht mehr zu meinem Dasein gehören. Er würde ein Stück Vergangenheit sein.
Es war drei Uhr nachts. Ich war wahnsinnig müde, und mein Kopf hämmerte. Richtig, die Tablette von Frau Frisch-Nielsen… Sie lag noch auf dem Tisch. Ich sah sie genauer an, ich kannte die Sorte. Schmerzstillend und beruhigend, kein „Aufputschmittel“. Ich holte mir ein Glas Wasser und schluckte sie.
Dann muß ich wohl eingeschlafen sein, denn als der Wecker brutal läutete, riß er mich aus einem tiefen, traumlosen Schlaf.
Frau Frisch-Nielsen hatte wirklich nicht viel Verstand. Aber sie besaß eine Art Instinkt, und sie merkte wohl, daß etwas mit mir nicht stimmte. Ein paarmal fühlte ich ihren forschenden Blick und nahm mich gewaltig zusammen. Ich wollte keine Fragen riskieren!
Die Post brachte mir einen Brief von den Eltern. Sie kämpften weiter um ihre Existenz. Der Sommer war gut gewesen, jetzt merkten sie einen kleinen Rückgang, aber hofften, daß die Vorweihnachtszeit wieder geschäftlichen Aufschwung bringen würde. Wieder fanden sie so liebe Worte, wieder bedankten sie sich dafür, daß ich es damals „so großartig“ aufgenommen hatte. Von wegen großartig! Sie hätten mich sehen sollen, wie ich heulend dasaß, bis Reni kam und mir Mut zusprach, das gesegnete Telegramm verfaßte und abschickte!
Sie waren sehr froh, weil ich so eisern Geld sparte, daß ich mindestens zwei Semester allein schaffen konnte – ohne den Monatswechsel von Vati.
Ja, das würde ich schaffen. Mein guter, strebsamer Vater sollte mindestens zwei Semester, vielleicht drei oder vier von dieser Verpflichtung frei sein.
Ich steckte den Brief in die Tasche und fing mit dem Mittagkochen an. Dann läutete das Telefon, Frau Frisch-Nielsen ging hin und führte ein langes Gespräch. Dann erschien sie in der Küche, um mir mitzuteilen, daß sie heute abend mit ihrem Mann eingeladen sei.
Das bedeutete eine große Erleichterung. Ich fühlte mich so elend und freute mich darauf, entspannen zu können, vielleicht auch zu heulen, ohne zu riskieren, dabei erwischt zu werden.
Und diese Gelegenheit nahm ich auch wahr. Ich saß abends in meinem Zimmer und weinte mich aus, weinte hemmungslos, weinte, bis ich nicht mehr konnte.
Dann ging ich „klauen“. Ich wußte, wo Frau Frisch-Nielsen ihre Medikamente hatte. Ich suchte und fand eine Schlaftablette.
Und sie wirkte großartig – wahrscheinlich, weil ich die erste meines Lebens nahm. Ich wußte kaum, wo ich mich befand, als ich Sonntag früh aufwachte. Es war sechs Uhr, ich hatte den Wecker gestern nicht abgestellt, und er klingelte zu gewohnter Stunde.
Jetzt kamen wieder die schrecklichen Gedanken, all das Grübeln. Ich hielt es nicht aus, ich mußte etwas tun, mußte mich beschäftigen. Schnell das Frühstück machen, das Sonntagessen mit Zeitschalter in den Ofen, dann weg, weg von allen forschenden Blicken und eventuellen Fragen. So schnell wie möglich in den geliebten Zoo, Bernadette Grather und ihre Familie treffen, für ein paar Stunden auf andere Gedanken kommen. Am letzten Sonntag war ich gar nicht in den Zoo gegangen. Frau Grather hatte mich angerufen, sie sei mit Mann und Kindern übers Wochenende eingeladen, wir müßten unser nächstes Treffen um eine Woche verschieben. Dann ging ich ins Städelsche Kunstinstitut und nachher ins Goethehaus – hatte also „etwas für die Bildung getan“, wie Vati immer sagt.
Ich trank eine Tasse Kaffee, konnte aber nichts essen. Wenn es so weiterging, würde ich recht bald meine Besenstiellinie wieder bekommen. Aber ich brachte es tatsächlich nicht fertig zu essen. Vielleicht später, mit Familie Grather zusammen…
Ich stand am Küchentisch und füllte Marmelade in zwei Näpfchen für den Frühstückstisch. Ich war müde, hoffnungslos und verzweifelt. Es schien mir, als könnte
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