Nur ein Jahr, Jessica!
Gottes willen, aufhören sollst Du nicht, Du sollst auf jeden Fall Dein Examen machen! Aber wir haben ein sehr schweres und sehr unsicheres Jahr vor uns. Um Dir weiterhin Deinen Wechsel schicken zu können, müßten wir das Geld von der Bank abheben, und gerade jetzt – na, ich erzähle wohl lieber weiter, damit Du alles verstehst.
Vati könnte gleich das Geschäft aufgeben und eine Stellung als Kalkulator im neuen Supermarkt bekommen. Er würde einigermaßen gut verdienen, und es wäre etwas Sicheres. Aber unser Eigentum aufzugeben, Opas solide aufgebautes Geschäft, das täte uns beiden in der Seele weh.
Deswegen wollen wir etwas anderes versuchen: Die einzigen kleineren Geschäfte, die neben diesen Riesenkonzernen bestehen können, sind die kleinen, feinen Spezialgeschäfte. Also wollen wir so etwas versuchen. Wir möchten uns selbst für ein Jahr die Chance geben und bis zur Hälfte des Spargeldes in das Unternehmen hineinstecken und dann innig hoffen, daß es uns gelingt. Wir wollen den Laden ganz renovieren, ihn so ansprechend und modern gestalten wie möglich und uns auf lauter Feinkost umstellen. Allerlei Delikatessen, Salate, erlesene Dinge in Dosen, Sachen, die man nicht in jedem Geschäft erhält. Daneben auch alltägliche Dinge, die hoffentlich ebenfalls gekauft werden, und zwar von Kunden, die durch die besonderen Spezialitäten ins Geschäft gelockt werden.
Wir haben genaustens kalkuliert. Bis in die Nächte hinein haben Vati und ich dagesessen und alles besprochen. In diesem Jahr müssen wir mehr rechnen denn je. Es ist unsere letzte Chance, unser Geschäft, unser Familienunternehmen zu retten.
Verstehst Du uns, Kind? Kannst Du Dir vorstellen, mitzumachen? Ein Jahr aussetzen, vielleicht kannst Du versuchen, etwas Geld zu verdienen und dann im nächsten Frühjahr das Studium wieder aufzunehmen?
So, jetzt habe ich es mir von der Seele geschrieben und muß schnell ein paar Tränen wegwischen.
Du wirst schon alle Einzelheiten noch erfahren. Aber bevor ich das alles schreibe, möchte ich Dich fragen, ob Du jetzt nicht nach Hause kommst, so daß wir alles besprechen können. Du verstehst wohl, daß wir Dich während Deiner Vorbereitung auf das Physikum nicht ablenken wollten, Dich nicht stören – jetzt müssen wir es blutenden Herzens tun.
Wir sehnen uns sehr nach einem Brief von Dir, Kindchen. Schreibst Du uns bald?
Vati grüßt Dich innigst und läßt sagen, daß er ganz furchtbar stolz auf Dich ist.
Einen lieben Kuß und eine ganz, ganz herzliche Umarmung von
Deiner Mutti!
Ich blieb ganz still sitzen mit dem Brief in der Hand. Es war mir, als hätte ich einen Schlag auf den Kopf bekommen. Im Halse wuchs und wuchs ein schrecklicher Kloß. Ich schluckte, und dann liefen mir zwei Tränen übers Gesicht, dann noch zwei und schließlich so viele, daß ich sie nicht mehr zählen konnte.
Mit dem Studium aufhören! Irgendeinen blöden Job suchen. Vielleicht sogar in einer anderen Stadt landen. Weit weg von Falko, weg von Reni, von den Donnerstagstanten, von all den Freunden und Freundinnen, die ich in diesen drei Jahren gefunden hatte. Weg von der Arbeit, die mit mein Lebensinhalt bedeutete.
Was sollte ich bloß tun? Arbeit suchen! Selbstverständlich, lieber heute als morgen. Mein Zimmer kündigen. Bis jetzt hatte ich es über die Ferien immer behalten können. Zum Teil hatte ich hier in Kiel Ferienjobs angenommen und weiter in meiner lieben Bude gewohnt. Zum Teil hatte ich sie meiner großartigen Zimmervermieterin, Frau Manders, zur Verfügung gestellt. Aber zum Semesteranfang konnte ich immer wieder einziehen.
Ich mußte den Eltern schreiben. Sie warteten sehnlichst auf einen Brief. Was sollte ich ihnen bloß sagen? Daß ich furchtbar enttäuscht war, aber selbstverständlich… Nein, nicht so! Sie hatten es schwer genug. Ich mußte…
Da klingelte es. Zweimal, also für mich. Ich fuhr mit dem Taschentuch über meine verheulten Augen und glättete meine Haare, während ich durch den Flur ging.
„Ach Reni, du bist es!“
„Ja natürlich, ich bin’s. Ich habe etwas ganz Ernstes mit dir zu besprechen.“
„Und ich mit dir ebenfalls.“ Im Licht meines Zimmers konnte ich meinen jämmerlichen Zustand nicht verheimlichen.
Reni sah mich entsetzt an. „Jessilein, was ist? Du bist ja ganz verheult! Wohl nichts mit Falko?“
„O nein, nein! Gott sei Dank, das ist es nicht.“
„Schlechte Nachrichten von zu Hause?“
„So kann man es wohl nennen.“
„Spuck aus, Mädchen!
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