Nur ein Katzensprung
sein, dass Holzminden wieder ruhig schlafen konnte? Sie musste zugeben, dass sie sich mehr Sorgen um Kim gemacht hatte, als ihr bewusst gewesen war. Sie und Irene hatten abwechselnd dafür gesorgt, dass sie keinen Augenblick unbeobachtet blieb. Paul natürlich auch. Aber hätte das wirklich etwas genützt, wenn dieser Sander sie hätte entführen wollen?
Irene stellte sich neben sie. „Du hast mir erzählt, dass Körner zu Kommissar Kayi gesagt hat, er hätte über Leon Ozelots bestellt. Ich habe das überprüft. Selbstredend tauchten in den Unterlagen keine wilden Tiere auf, aber ich konnte die 100 000 Euro zurückverfolgen. Es sieht so aus, als wäre die bestellte Ware, die übrigens aus Mexiko importiert werden sollte, nicht durch den Zoll gegangen.“
„Das erklärt, warum Leon nicht geliefert hat.“
„Aber es erklärt nicht, wo Leon abgeblieben ist. Sicher war beiden das Risiko bewusst, und für einen Millionär wie Körner wären das nur Peanuts. Er hat sich hauptsächlich darüber geärgert, dass Leon ihn nicht informiert hat, oder?“ Irene sprach immer langsamer, so als müsste sie nachdenken, alles noch einmal prüfen. „Er ist jetzt seit einer ganzen Woche verschwunden. Ich habe jedes Detail überprüft, jeden einzelnen Vertrag, alle Unterlagen, es gibt keinen nachvollziehbaren Grund. Es fehlt kein Geld. Er hat, abgesehen von der Zollproblematik, keinen Fehler begangen, durch den größere Summen verloren gegangen wären.“ Ihre Stimme brach. „Ich, ich habe so ein Gefühl, dass er tot ist.“ Sie sprach fast unhörbar. „Ich verstehe es nur nicht.“
Anna bewegte sich nicht. Sie ging die Gedankenkette noch einmal durch, auf der Suche nach einem Patzer oder einer Lücke.
„Du musst morgen Früh zur Polizei gehen. Sie müssen dich nach einer Woche ernst nehmen.“ Nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: „Vielleicht hat Gregor Körner nichts mit den entführten Kindern zu tun. Fakt ist allerdings, dass er Sander auf Leon gehetzt hat.“ Sie hob die Hand, als Irene etwas sagen wollte. „Ich weiß, dass er gesagt hat, Sander sollte sich als Neukunde ausgeben, um an Leon heranzukommen. Aber du hast seinen Auftritt bei euch und auch die Mailboxnachrichten doch mitbekommen. Entweder hat Sander sich nicht an seinen Auftrag gehalten oder Körner hat gelogen.“
„Meinst du, die Polizei ist an den Nachrichten auf den Anrufbeantwortern interessiert?“
„Auf jeden Fall. Sag mal, was wäre eigentlich, wenn Körner Leon im Streit ermordet hätte und Sander später beauftragt hätte, um den Verdacht auf ihn zu lenken?“
„Ich dachte, er hat ein Alibi für das Wochenende.“
„Wer sagt denn, dass Leon nicht bereits Freitagnachmittag verschwunden ist, unmittelbar, nachdem du nach Hause gegangen bist?“
Irene überlegte. „Das wäre durchaus möglich.“
„Du musst morgen unbedingt zur Polizei gehen und alles erzählen, was du weißt. Du willst Leon doch zurück, oder?“
Jetzt war Irene den Tränen nah.
Als Anna sie umarmte, flüsterte sie: „Ich habe ihn in den letzten Tagen kaum noch vermisst.“
Anna drückte sie noch einmal fest an sich und schluckte herunter, was sie eigentlich antworten wollte.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
Holzminden
Sonntag, 6. November 2011
gegen 10.00 Uhr
52
Irene hatte so gut geschlafen wie lange nicht mehr. Sie gönnte sich eine ausgiebige Dusche und beschloss, Stefan Ollner direkt anzurufen und nicht persönlich zur Dienststelle zu gehen. Seine Karte steckte noch in ihrer Handtasche. Er meldete sich schlaftrunken nach dem vierten Klingeln.
„Ollner!“
„Guten Morgen, Irene Rugenstein, Herr Kommissar, ich muss Sie unbedingt sprechen.“
Er grunzte eine Antwort, die Irene nicht verstand, aber als Aufforderung weiterzusprechen interpretierte.
Sie hatte sich die Argumente so detailliert zurechtgelegt, dass sie sie jetzt herunterbeten konnte, ohne sich zu verhaspeln oder etwas auszulassen.
„Moment, Moment, lesen Sie bitte nicht so schnell, ich komme kaum mit“, unterbrach Ollner sie.
Irene war verblüfft. „Ich lese nichts ab.“
„Das ist schade. Hören Sie, notieren Sie jede Einzelheit, besorgen Sie auch die beiden Anrufbeantworter. Ich informiere meinen Kollegen, und wir treffen uns in einer Stunde in der Dienststelle und gehen noch einmal alles in Ruhe durch.“
Irene nickte und legte auf. Im nächsten Augenblick merkte sie, was sie getan hatte, wagte aber auch nicht, ihn erneut anzurufen.
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