Nur ein Katzensprung
hatte jemand sie gefunden und gut sichtbar dorthin gestellt, damit der Verlierer sie wiederfinden konnte. Sie zog den Reißverschluss auf. Die Sachen lagen sorgsam gefaltet darin. Kim hatte die Kleidungsstücke nicht benutzt.
Was wollte sie mit ihrer SMS sagen? Wohin war sie gegangen? Mit wem?
Anna stand mitten auf der Fußgängerzone und rief nach Kim, so laut sie konnte. Einige Passanten schüttelten den Kopf, im Haus gegenüber öffnete sich ein Fenster. Von Kim keine Spur.
Anna spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie schluckte sie herunter, wischte sich die Augen trocken. Irene hatte sich auf sie verlassen, hatte ihr ihre Tochter anvertraut, und sie hatte es vermasselt.
Sie brauchte Hilfe.
Kurz entschlossen rief sie Paul an. Er versprach, sich sofort auf sein Fahrrad zu setzen und nach ihr zu suchen.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
Holzminden
Sonntag, 6. November 2011
gegen 12.30 Uhr
54
„Gehe Emma bsuchen. Kazensprung okee.“ Kofi legte das Handy so auf den Tisch, dass Ollner den Text ebenfalls lesen konnte. „Was soll das?“
Keuchend tauchte Irene Rugenstein in der Tür zum Büro auf.
„Kim ist verschwunden.“
„Das hat uns Anna Blume bereits mitgeteilt. Wir verstehen die Nachricht nicht. Was wollte Ihre Tochter damit sagen?“
„Sie ist mit Emma befreundet, Sie wissen, das Mädchen, das entführt und noch nicht gefunden wurde. Und der Pas de Chat, der Katzensprung, ist ein schwieriger Schritt beim Ballett, ich denke, sie hat ihn geschafft.“
Irene Rugenstein setzte sich wieder auf den Stuhl, auf dem sie vor wenigen Minuten auch gesessen hatte. „Kim hat in den letzten Tagen mehrmals von einem Mann mit Katzenbabys gesprochen. Ich habe dem keine Bedeutung beigemessen, weil Kim eine Katzenallergie hat, aber unter Umständen hat der Entführer die Kinder damit zu sich ins Auto gelockt.“
Kofi klopfte mit dem Finger auf das Handy. „Da er Kim mit Katzen nicht locken konnte, hat er ihr gesagt, er wüsste, wo Emma ist“, überlegte er. „Das wäre plausibel.“
Irene erschrak. „Aber das bedeutete ebenfalls, dass er sie kennt, dass er uns kennt.“
„Judo, Fußball, Schauspiel und jetzt Ballett, lauter Kinder mit einer außergewöhnlichen Begabung“, ergänzte Stefan Ollner.
„Wie der verunfallte Sohn von Gregor Körner. Ein großes Talent, das durch einen Fahrfehler der Mutter getötet wurde.“ Kofi rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Hatten sie einen Fehler gemacht? War nicht Sander der Entführer?
„Die Hundestaffel hat gestern das Waldgelände Körners untersucht. Sie haben nichts gefunden.“
„Gestern war da womöglich auch nichts. Die Gebäude sind so unübersichtlich, dass er ein kleines Mädchen dort problemlos verstecken könnte. Er braucht den Wald nicht, ein Kellerraum genügt.“
„Die Spinne.“
„Welche Spinne?“
„Die ausgetrocknete, die Marc bei Kelvin gefunden hat. Die Keller des Gutes wurden seit Ewigkeiten nicht mehr bewirtschaftet.“
„Wir brauchen mehr Leute. Herbert sitzt unten am Empfang. Nimm ihn mit und fahrt los. Ich kümmere mich um den Rest“, wies Ollner ihn an.
Kofi sprang auf und prallte gegen Irene. „Sie bleiben hier!“, rief er ihr zu. Er hörte noch, dass sie „das werden wir ja sehen“ antwortete und hinter ihm die Treppe heruntergerannt kam, bevor er zu Herbert an den Tresen trat.
Als die beiden sich ins Auto warfen, um loszufahren, raste ein roter Zafira an ihnen vorbei vom Parkdeck.
55
Anna hielt Kims Tasche in der Hand und drehte sich einmal um die eigene Achse. Wohin war sie von hier aus gegangen? Zum Marktplatz? Zur Weser hinunter? Oder in Richtung HAWK? Wollte sie möglicherweise zum Partyservice in die Sohnreystraße?
Anna ging am Café Lücke vorbei auf das Katzensprungtor zu. Das war der kürzeste Weg.
Plötzlich bemerkte sie eine Gestalt, die ihr bekannt vorkam. Sie kam die schmale Gasse an der früheren Synagoge entlang auf sie zu. Als die Person den Kopf hob, erkannte sie den Anwalt Nussbaum. Er trug ein Paket unter dem Arm. Kannte er Kim? Davon war auszugehen. Sie sollte ihn fragen, ob er sie gesehen hatte. Wenn sie unterwegs zum Partyservice war, hätte er ihr begegnen können.
Er stellte das Paket, das nicht schwer, aber sperrig zu sein schien, auf den Boden und schloss die Haustür auf.
Sie wollte nach ihm rufen, doch an diesem Punkt fiel ihr etwas ein.
Anna erinnerte sich an ihr gemeinsames Frühstück mit Paul. Sie konnten nicht an ihrem gewohnten
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