Nur ein Kuss von dir
vorzuschlagen, solange ich nicht weiß, ob es funktioniert.« Ich sah ihn einen Augenblick lang an, und die Tränen drohten plötzlich hervorzuquellen. »Ist es zu spät? Hast du beschlossen, dass das Maß jetzt voll ist? Es macht mir immer noch nichts aus, dich rüberzuholen, auch wenn …«
»Also jetzt wirst du eindeutig dramatisch«, sagte er seufzend. »Nein, du bist nicht zu spät. Ich wünschte nur, du hättest mir das schon vor deiner Reise gesagt. Dann hätte ich in den letzten beiden Wochen die Krankenhäuser nach ihm abgesucht.«
»Tut mir leid, daran hatte ich nicht gedacht. Ich wollte einfach …« ich wurde von dem schrillen Klingelton meines Handys unterbrochen, der uns beide zusammenzucken ließ. »Warte eine Sekunde«, sagte ich, während ich es aus meiner Gesäßtasche zerrte. »Hi, Mum. O ja, tut mir leid deshalb. Ich … hm, hab jemand aus der Schule getroffen und ein bisschen gequatscht. In fünf Minuten bin ich wieder zu Hause.«
Ich blickte zu Callum hoch. »Ich muss los«, sagte ich entschuldigend. »Sie warten auf ihre Tasse Tee. Ich sollte die Milch dazu holen.«
Er stieß eine Art Lachen aus. »Na, dann gehst du besser los. Ich will doch nicht, dass sie noch länger auf ihren Tee warten müssen. Aber wir sollten weiter reden, Alex. Wir müssen noch eine Menge reden.« Seine hypnotisierenden Augen waren immer noch zurückhaltend.
Ich schluckte nervös. »Klar, wir müssen alles genau durchgehen. Ich kann dir genau sagen, was passiert ist, und dann müssen wir beide die Suche nach ihm starten.« Callum nickte kurz, sagte jedoch nichts mehr. Ich versuchte es wieder: »Hör mal, das ist doch eine gute Nachricht, ich weiß, dass es so ist. Unser einziges Problem besteht darin, Lucas zu finden.«
»Hoffentlich stimmt das«, murmelte er leise, ehe er plötzlich lebhaft wurde. »Ich muss jetzt los und ein bisschen sammeln. Bist du nachher zu Hause?« Ich nickte stumm. »Gut, dann komme ich zu dir.« Im Spiegel sah ich, wie er mich sehr kurz auf den Kopf küsste und dann aufstand. Aber der kurze Blick, den ich auf sein Gesicht werfen konnte, ließ mich bis auf die Knochen erschauern. Seine Augen glänzten vor Tränen.
6. Handynummer
Als ich mit der Milch nach Hause kam, war ich nicht glücklicher als beim Losgehen. Meine schön zurechtgebastelten Phantasien darüber, wie Callum und ich uns in die Arme fallen würden, soweit das möglich war, hatten sich in Luft aufgelöst. Ich saß mit meiner Familie zusammen, und während die anderen glücklich und zufrieden die Urlaubsfotos durchsahen, gab ich mir große Mühe, die Bilder von Max, die mit in dieser Auswahl steckten, nicht zu betrachten. Und die ganze Zeit fühlte ich mich wie ausgehöhlt.
Es war anders als das Gefühl damals, als ich dachte, Callum würde mich nicht mehr lieben, oder als mir Catherine das Amulett gestohlen hatte und mich glauben ließ, sie hätte für immer das Verbindungsglied zwischen ihm und mir zerstört. Jetzt war alles ganz allein meine Schuld. Der Schmerz in Callums Augen war meinetwegen, und ich konnte es ihm nicht vorwerfen, wenn er beschloss, dass es mit uns aus war. Auch ohne das war er schon unglücklich genug. Ich entschuldigte mich bei meiner Familie, die sich angeregt unterhielt, und ging hoch in mein Zimmer.
Da herrschte immer noch das totale Chaos. Ich hatte sehr hastig gepackt und Kleidungsstücke, Schuhe und Make-up über den Boden verstreut zurückgelassen. Ohne richtig darüber nachzudenken, machte ich mich daran, alles aufzuheben, und empfand ein bisschen Trost darin, wieder so etwas wie Ordnung herzustellen. Am Schreibtisch unterbrach ich das Aufräumen, um meinen Spiegel wieder in die gewohnte Position zu bringen, und dabei erwischte ich einen Blick auf eine schattenhafte Gestalt im Umhang hinter meiner Schulter, und gleichzeitig prickelte es in meinem Handgelenk.
»Callum?«, flüsterte ich so laut, wie ich mich traute, während mich die Erleichterung nahezu überwältigte. »Bist du es? Ich hatte dich nicht so früh erwartet.«
Die Gestalt unter der Kapuze rührte sich nicht, doch am Gefühl in meinem Handgelenk erkannte ich, dass es nicht Callum war. »Olivia? Du bist es doch, oder? Komm schon, setz dich und erzähl mir, wie es dir geht, wieso du hier so rumschleichst.« Olivia war noch ein Kind gewesen, nicht älter als zwölf oder dreizehn Jahre, als sie in den Fleet gefallen und ertrunken war. Sie war leicht durcheinanderzubringen und hatte sehr mit den Nachwirkungen eines
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