Nur ein Märchen?: Gratisaktion bis 15.10.2013!
Siegfried.
Das Blut rinnt aus einer Wunde an seiner Schulter, sein Hemd ist blutdurchtränkt, seine Haut leichenblass. Ich lege eine Hand auf seine Stirn, auf seinen Hals, auf seinen Arm.
Ich versuche, einen Puls zu fühlen, aber da ist kein Puls. Ich halte mein Gesicht ganz nah an seines, um seinen Atem zu spüren, aber da ist kein Atem. Die Gewissheit fährt mir wie ein Schock in alle Glieder: Er ist tot.
Ein nie gekannter Schmerz rast durch meinen Körper, ich zittere und werfe mich schluchzend auf ihn, bin selbst ganz blutverschmiert, das ist mir egal. Ich fühle mich, als hätte ich den größten Verlust meines Lebens erlitten. Eine tiefe Trauer übermannt mich, mein Herz zerreißt, ich schmiege mich fest an Siegfrieds toten Körper, weil ich weiß, dass nur er meine Qualen beenden kann.
Als der Schmerz unerträglich wird, öffne ich den Mund und schreie. Ich schreie meinen Schmerz hinaus in den unheimlich flackernden Flur, immer noch an Siegfried geklammert. Und schreie und schreie.
„ Hilda, oh my godness, Hilda! Hilda! Hilda, wach auf, wake up, Hilda!“ George schüttelt mich, er ist kreidebleich und kniet neben meinem Bett. Ich blinzle in das helle Licht der Deckenlampe und sehe mich verwirrt um.
„ Siegfried“, sage ich und zeige zur Tür. „Da war Siegfried, und er ist – tot.“ Erneute Schluchzer schütteln mich und ich vergrabe das Gesicht in der tränennassen Bettdecke, die ich fest umklammert halte.
„ Honey, du hast geträumt! Es war nur ein Traum“, versucht George mich zu beruhigen.
„ Ein Traum? Das kann nicht sein, ich war doch hier, dann war da dieses Geräusch, davon bin ich aufgewacht, und dann hat es geklopft und ich dachte, es wären deine Studenten, und dann bin ich zur Tür gegangen, und da war…“
„ Da war nichts“, unterbricht George mich sanft und nimmt meine Hand. „Da war nichts. Du hast wirklich nur geträumt. Ich bin wachgeworden, weil du geschrien hast wie am Spieß. Das war der schlimmste Schrei, den ich jemals gehört habe, selbst durch meine Ohrenstöpsel. Dann habe ich das Licht angemacht und du hast hier, in deinem Bett, gesessen, deine Decke umklammert und du hast einfach nicht aufgehört zu schreien.“
Ich kann es gar nicht glauben. Es war so real. Der Schmerz war so echt. Ich spüre jetzt noch, wie es mir die Brust zusammenzieht und den Atem abschnürt, wenn ich nur an das Bild des toten Siegfried vor meiner Tür denke. Tränen rinnen über mein Gesicht, ich kann mich einfach nicht beruhigen. George nimmt mich in den Arm und wiegt mich sanft hin und her.
„ Ach, Hilda, es war doch nur ein Traum.“ Es war nicht nur ein Traum. Es war der schlimmste Traum, den ich je hatte. George legt sich neben mich und bettet meinen Kopf auf seine Brust. Er streichelt mir beruhigend über das Haar und sagt, ich solle noch ein bisschen schlafen.
Als Georges Wecker klingelt, bin ich schon längst wach. Genau genommen habe ich seit dem kleinen Zwischenfall gar nicht mehr geschlafen. Immer wenn ich die Augen geschlossen habe, sah ich das Bild des toten Siegfried vor mir und dieser unerträgliche Schmerz kehrte zurück.
Daher habe ich die Augen nicht mehr geschlossen. George ist schnell wieder eingeschlafen, aber ich habe neben ihm wachgelegen und gegrübelt. Über den Armreif und das Theaterstück, das mich so beeindruckt hat, und über meinen Traum. Wahrscheinlich war ich einfach nur übermüdet und daher etwas übersensibel und deshalb hatte ich diesen schrecklichen Traum.
Beim Frühstück, das zum Glück aus einem ordentlichen Büffet und nicht irgendeinem mittelalterlichen Hirsebrei besteht, treffen wir auf die Studenten. Florian kommt direkt auf mich zu gestürmt.
„ Hey, guten Morgen, habt ihr auch dieses krasse Gebrüll heute Nacht gehört? Muss so gegen vier Uhr gewesen sein! Das klang, als würde jemand gefoltert oder abgeschlachtet werden!“ Seine Augen leuchten.
Ich blicke verlegen nach unten. „Ähm, ja, hab’s auch gehört“, nuschele ich.
„ Krass, oder?“ ‚Krass‘ scheint sein absolutes Lieblingswort zu sein, so oft, wie er es benutzt.
George bespricht mit seinen Studenten den Tagesplan und ich widme ich in der Zeit meinem Frühstück. Ich bin total ausgehungert und esse mit großem Appetit zwei Brötchen, ein Müsli und eine Kiwi. Danach fühle ich mich gestärkt und gut gerüstet für den neuen Tag.
Nach dem Frühstück bricht George mit seiner Gruppe auf, um eine Bootstour auf dem Rhein zu machen. Ich bleibe lieber
Weitere Kostenlose Bücher