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Familie wäre.
„ Vielleicht hat sie ein heimliches Verhältnis gehabt, aus dem heimliche Kinder entstanden sind“, vermute ich, da mir unser heimischer Herr Pastor einfällt, der – wie viele andere Herren seines Berufsstandes auch – ein eheähnliches Verhältnis mit seiner Haushälterin führt. Sie sind zwar offiziell nicht zusammen, das dürfen sie schließlich nicht, aber die gute Dame, unverheiratet natürlich, ist immer an seiner Seite und keiner weiß, wer der Vater ihrer vier Kinder ist. Je größer die Kinder werden, desto mehr ähneln sie dem guten Herrn Pastor, aber man darf darüber nicht öffentlich sprechen, sondern es nur hinter vorgehaltener Hand vermuten.
Hanne seufzt. „Ja, in der Richtung habe ich mir auch schon was gedacht. Aber das wird sehr schwer zu beweisen sein. Hildegard von Bingen ist die vermutlich bedeutendste Frau in der Geschichte der katholischen Kirche. Es wird nicht einfach sein, die Existenz eines Kindes nachzuweisen.“
„ Außerdem ist es für Frauen viel schwieriger, eine Schwangerschaft zu verbergen. Ein Mann braucht nur zu leugnen, dass er der Vater eines Kindes ist. Aber einer Frau sieht man es schon lange vorher an, dass sie Mutter wird“, gebe ich zu bedenken.
Das ist nun wirklich eine verfahrene Situation. Hanne hat sich mit so viel Mühe in die Familiengeschichte vertieft, es wäre doch zu schade, wenn hier das Ende erreicht sein sollte.
„ Ich habe in alle anderen Richtungen gesucht, habe auch versucht, etwas über ihre Vorfahren herauszufinden, um vielleicht dort eine Verbindung beweisen zu können – nichts. Es spricht so Vieles dafür. Die Zeit passt perfekt, auch der Ort kommt hin, der Vater heißt Hildebrecht, vermutlich hatte er keine Schwestern, so dass der Armreif an seine älteste Tochter gehen musste, und, was vielleicht am wichtigsten ist, es gibt keine andere Spur mehr, die nicht im Sande verläuft. Es muss Hildegard von Bingen sein, ich fühle es.“ Hanne hat im ganzen Gesicht rote Flecken bekommen, so sehr ist sie in Fahrt.
„ Aber sie war eine Nonne. Hätte sie ein Kind bekommen, dann wäre sie doch sicher aus dem Kloster geflogen, oder?“, vermute ich.
Hanne nickt. „Vermutlich schon. Andererseits war es keine Seltenheit, dass besonders gläubige Ordensfrauen – oder auch Mönche – sich freiwillig in die Askese begaben, einige Wochen oder Monate besonders enthaltsam lebten und keinen Kontakt zu anderen Menschen hatten. Wäre Hildegard schwanger gewesen, so hätte sie sich unter dem Vorwand der Askese zurückziehen und unbemerkt ihr Kind bekommen können.“
Sie hat sich wirklich gut informiert und anscheinend alle Möglichkeiten in Betracht gezogen. Mein Respekt vor dieser Frau wächst ins Unermessliche – vor Tante Hanne, nicht vor Hildegard von Bingen.
„ Und wenn wir einfach davon ausgehen, dass es so war? Dass Hildegard von Bingen eine Hildegard aus unserer Familie war? Wir müssen die Geschichte nicht an die große Glocke hängen, das wird außer uns niemand erfahren“, schlage ich vor.
„ Dann bleibt aber noch immer der Armreif. Ich kann nicht beweisen, dass sie ihn hatte. Außerdem war es Ordensschwestern auch damals schon verboten, weltliche Besitztümer zu haben. Ein solch wertvolles Schmuckstück im Kloster, das kann ich mir kaum vorstellen“, winkt Hanne müde ab.
Stimmt ja, den Armreif hatte ich bei der ganzen Sache schon fast wieder vergessen.
Wir unterhalten uns noch eine Weile über die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit, dass wir die Erbinnen einer Heiligen sein sollen, als mir plötzlich die langen Schatten im Garten auffallen. Entsetzt stelle ich fest, dass es schon spät geworden ist, schon nach fünf Uhr, und dass ich eigentlich heute Nachmittag mit Markus verabredet war.
Es war so schön und so spannend bei Hannelore und Rüdiger, dass ich komplett die Zeit vergessen habe. Hastig erkläre ich den beiden, dass ich noch eine wichtige Verabredung habe und nun wirklich schnell los muss. Sie sind zwar ein bisschen enttäuscht, dass ich schon gehe, aber sie nehmen es mir nicht übel.
„ Es war eine wirklich schöne Überraschung, die du mir heute bereitet hast“, sagt Tante Hanne beim Abschied an der Haustür. „Sag deinen Eltern liebe Grüße und komm uns doch bald wieder besuchen!“ Ihr Blick ist bittend und ich kann sehen, wie sehr sie sich wünscht, dass sie wieder Teil unserer Familie sein darf.
Ich verspreche den beiden, sie auf jeden Fall wieder zu besuchen und sie anzurufen, wenn
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