Nur Ein Toter Mehr
Privatdetektivs geziemt, hört sie mir zu.
»Ich habe Lucio Etxe wirklich ganz schön zugesetzt«, schließe ich meinen Bericht, »auch wenn es mir leidgetan hat, ihn an jenen furchtbaren Morgen erinnern zu müssen. Allerdings frage ich mich jetzt, ob er mir was vorgespielt hat.«
»Tja, das kann gut sein, schließlich ist er kein Geschöpf deiner Fantasie.«
»Aber für mich
ist
Lucio Etxe eine Romanfigur! Genau wie all die anderen, die ich in diesem Mordfall noch befragen werde!«, protestiere ich energisch.
»Irrtum. Wir sind allesamt Menschen aus Fleisch und Blut und keine willenlosen Romangestalten, die nach der Pfeifeeines allmächtigen Autors tanzen. Und wenn du nicht aufpasst, fesselt dich irgendwann einer an Apraiz’ Eisenring.«
»Papperlapapp!« Unwillig schüttele ich den Kopf und versuche, das Gespräch auf etwas anderes zu lenken, denn darüber will ich jetzt lieber nicht weiter nachdenken. »Ich habe also bisher vier Verdächtige«, fasse ich zusammen. »Lucio Etxe, Antimo Zalla, sein Sohn Tomasón – und das Gesicht, das Etxe gesehen haben will.«
»Einen hast du vergessen.« Mit einer Hand ordnet Koldobike ihre karottenroten Locken, wie sie es immer tut, wenn sie gleichgültig wirken will. »Dich.«
»Wie?«, rufe ich perplex.
»Warum nicht? Könnte doch sein, dass du mich und all die anderen mit deiner Unschuldsmiene täuschen willst«, erwidert sie, bevor sie mit einem Grinsen hinzufügt: »Und vergiss jetzt bloß nicht, das, was ich gerade gesagt habe, niederzuschreiben.«
»Keine … keine Sorge«, sage ich, der ich mich allmählich von meiner Überraschung erhole. »Mein Roman wird nichts auslassen von dem, was passiert oder gesagt wird, nicht mal ein Komma.«
»Dann schreib am besten gleich weiter: 1935 warst du sechzehn Jahre alt, und in dem Alter kann man auf jeden Fall schon jemanden umbringen. Manchmal ist bei einem Verbrechen das Motiv nämlich vollkommen nebensächlich.«
»Du bist ja verrückt!«, entgegne ich scheinbar entrüstet, insgeheim bin ich jedoch hochbeglückt über diese Idee. Zwar hat Agatha Christie den Trick schon in ›Alibi‹ angewandt, aber … hm … meinen Roman würde dieser Verdacht zweifellos bereichern. Bin ich, der Autor, also der Mörder? … Auf jeden Fall ist das noch eine Spur, die der Leser meines Romans verfolgen sollte.
»Das ist genau die Antwort, die man von einem Mörder erwartet«, unterbricht Koldobike meine Gedankengänge.
»Der tatsächliche Mörder wäre doch nie so bescheuert, sein bereits vollkommen vergessenes Verbrechen ans Licht zu zerren!«
»Es sei denn, er leidet unter Amnesie«, erwidert Koldobike trocken und zeigt sich damit einmal mehr ihrer Rolle als Espartas Sekretärin würdig. »Dann wäre er am Ende genauso überrascht wie der Leser. Und das wär doch reizvoll, oder? So würde der Roman garantiert ein Riesenerfolg. Ich würde dir das erste Exemplar auch druckfrisch ins Gefängnis bringen.«
In diesem Moment schellt das Türglöckchen, und sie steht auf.
»Jedenfalls hast du nur eine Chance, dich von dem Verdacht zu befreien: Du musst den Mörder finden – und ich gäbe was drum, dass du es nicht bist.«
»Darf man erfahren, wo du heute in aller Herrgottsfrüh mit Anzug, Krawatte und dem Hut hinwolltest, den dein Großvater aus Amerika mitgebracht hat?«, stellt meine Mutter mich zur Rede, als ich eine Stunde später zum Mittagessen nach Hause komme.
Die Neugier meiner Schwester Elise hält sich hingegen in Grenzen; während sie den Küchentisch deckt, bedenkt sie mich nur mit einem flüchtigen Blick.
»Euer Vater hat mir
immer
erzählt, wo er gewesen ist«, drängt meine Mutter auf eine Antwort, schon halb beleidigt, weil ich mir erst mal wortlos die Hände wasche.
»Mir war heute früh einfach nach einem Strandspaziergang«, erkläre ich notgedrungen, in der Hoffnung, dass sie sich damit zufriedengibt. »Die Etxes waren auch schon unterwegs.«
»Da hast du ja gerade die Richtigen getroffen: Die reden sonst bloß mit den Krabben«, erwidert meine Mutter sarkastisch.
»Zieh dich endlich um, Sancho, das Essen wird kalt«, kommt Elise mir unerwartet zu Hilfe. Was für ein Glück, dass sie heute zu Hause arbeitet; sie ist Näherin, und normalerweise isst sie bei ihren Kunden.
Rasch werfe ich meiner zwei Jahre älteren Schwester einen dankbaren Blick zu und verschwinde in meiner Schlafkammer. Während ich mich zum ersten Mal seit neun Stunden der Anzugjacke entledige und danach Krawatte, Hemd, Hose und Hut
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