Nur Ein Toter Mehr
sorgsam auf den Schemel neben meinem Bett lege, denke ich darüber nach, wann und wie ich meinen beiden Frauen am besten eröffne, dass sich in meinem Leben eine entscheidende Wende vollzogen hat. Hoffentlich geschieht es ganz nebenbei, ohne feierliche Erklärung; Sam Spade und Philip Marlowe mussten sich zu Hause nie rechtfertigen, sie waren einfach Privatdetektive, Punktum.
Bei Tisch erzählt meine Mutter den neuesten Dorftratsch, während Elise und ich hungrig den halben Teller voll Linsen vom Schwarzmarkt und ein Spiegelei mit zwei gekochten Kartoffeln hinunterschlingen. Vergeblich bemühe ich mich, ihr zu folgen, was sie am Ende merkt und mich deshalb mit den Worten: »Wer so früh aufsteht, muss einen Mittagsschlaf halten« in meine Kammer schickt. Kaum liege ich in den Federn, fällt mein Blick jedoch auf den Schemel mit dem Anzug, sodass ich, statt die Augen zu schließen, zu grübeln beginne. Soll ich mich künftig immer so kleiden? Oder nur, wenn ich als Samuel Esparta im Einsatz bin? Dass meine Vorbilder durchweg mit Trenchcoat und Hut herumlaufen, liegt sicher daran, dass sie von der Hand in den Mund leben und zudem ständig auf Achse sind, heute in einer Bar, morgen in einer Anwaltskanzlei, und in schäbigen Absteigenübernachten. Gähnend entscheide ich schließlich, dass ich nach Feierabend meine Arbeitskleidung ablegen werde. Ich habe ein Heim und eine Familie, und
so
sehr will ich nun auch wieder nicht in die Haut meiner Idole schlüpfen, letzten Endes schreibe ich nur einen Roman.
Eine Siesta hält man nicht mit offenen Augen, weshalb ich erst um halb sechs wieder die Türklinke meiner Buchhandlung herunterdrücke. Koldobike bedient gerade Señorita Mercedes, die für ihre Mädchenklassen Schulbücher bestellt hat.
Die Bücher für die Lehrerin aus Algorta liegen auf Stapeln bereit, die in den letzten Tagen aus dem Boden gewachsen scheinen. Jedes Jahr Anfang September wird die Buchhandlung von Lehrbüchern für Grund-, Haupt-und Oberschulen überschwemmt, herausgegeben von Verlagen wie beispielsweise dem »Antisektiererischen Verlag« in Burgos, der Heimatstadt unseres
»Caudillo«
. Unter der Ägide der katholischen Kirche haben sie allesamt die politische Vorzensur passiert, weshalb sie auch mit einem Stempel vom soundsovielten »Jahr des Triumphs« versehen sind. Gegenwärtig verkaufen wir ein Mathematikbuch aus dem »II. Jahr des Triumphs«, ein Lehrbuch der Physik und Naturwissenschaften, eine Geschichte der Spanischen Literatur von 1938, dem »III. Jahr des Triumphs«, sowie ein Schülerlexikon, das irrtümlich nicht ausgezeichnet war und den Weg in die Buchhandlungen nur gefunden hat, da das Versäumnis durch ein von Hand gestempeltes »II. Jahr des Triumphs« wettgemacht werden konnte. Leider kann ich auf die Einnahmen nicht verzichten, denn ohne sie würde ich mich mit meiner Buchhandlung nicht über Wasser halten können. Zum Glück sind diese Werke bis zum Ende des Monats aber alle verkauft.
»Guten Tag, Señorita Mercedes. Wie geht’s?«, begrüße ich die Lehrerin.
»Die Zeiten werden langsam besser, nicht wahr?«, entgegnet sie mit sanfter Stimme, während ihr Blick aufgrund meiner ungewohnt eleganten Erscheinung ein paar Sekunden länger als sonst auf mir weilt. »Die Schulbücher sind dieses Jahr jedenfalls noch dicker geworden, oder täusche ich mich?«
»Na ja, sie wurden ja auch regelrecht mit der franquistischen Ideologie gemästet«, erwidert Koldobike trocken, während sie ihr die Quittung zur Vorlage bei der Gemeindeverwaltung reicht. »Ich lasse sie Ihnen liefern.«
»Oh, vielen Dank, das ist nett. Am besten übermorgen so gegen zwölf. Da will ich in der Schule neue Vorhänge aufhängen.«
»Señorita Mercedes dürfte um die dreißig gewesen sein, als Leonardo damals ertrank«, sagt Koldobike nachdenklich, kaum ist die Tür hinter der Lehrerin ins Schloss gefallen. »Welches Motiv könnte sie gehabt haben? Eigentlich wirkt sie so, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun, aber wer weiß, und damals, als sie …«
»Unsinn, Puppe!«, falle ich meiner Sekretärin ins Wort. »Señorita Mercedes zu verdächtigen ist vollkommen absurd. Sag mir lieber, wen ich morgen zu dem Fall befragen soll. Was hältst du zum Beispiel davon, wenn ich Félix Apraiz abpasse, bevor er seine Reusen einholt?«
»Und warum nimmst du zur Abwechslung nicht mal jemanden oben im Ort in die Mangel? Der Strand ist schließlich nicht der Nabel der Welt.«
»Aber er ist der
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