Nur Ein Toter Mehr
fürchterlichen Umständen wäre es zum Beispiel nicht verwunderlich, wenn ihr keinen Abschied voneinander genommen hättet.«
Abrupt bleibt Eladio Altube stehen. Da habe ich wohl einen wunden Punkt getroffen, und das völlig ohne Absicht, denn eigentlich wollte ich das Gespräch nur wieder auf das Jahr 1935 und Apraiz’ Felsen lenken.
»Du bist echt nicht dumm, Sancho Bordaberri«, sagt er leise, und als sich unsere Blicke treffen, verbessert er sich, »äh, Samuel Esparta, meine ich natürlich. Woher weißt du das?«
»Na ja, ich habe mich einfach in deine Lage versetzt, wie du, dem Ertrinken nah, neben deinem Bruder …«
»Warum habe ich mich bloß nicht von ihm verabschiedet, als noch Zeit war? Als wir beide noch voller Verzweiflung an den Ketten zerrten und er wie ich um Hilfe schrie? Ich glaubte wirklich, wir würden beide gleichzeitig ertrinken … aber er ertrank vorher, er ertrank, als mir der Arsch längst schon auf Grundeis ging und ich nur noch um mein Leben kämpfte. Verdammt, Leonardo starb neben mir an diesem gottverdammten Felsen, und ich hab’s noch nicht mal mitbekommen! Seitdem …«
Er verstummt, und während wir schweigend weitergehen, kommt mir auf einmal in den Sinn, dass eine Figur wie er für einen Krimiautor eigentlich ein wahres Geschenk ist: Auf ein Zwillingspaar wird ein Mordanschlag verübt, doch ein Zwilling überlebt, das heißt, der Mörder hatte nur zu fünfzig Prozent Erfolg; übertragen auf einen »normalen« Mordfall mit nur einem Mordopfer, würden die fünfzig Prozent bedeuten, dass die eine Hälfte seines Körpers noch am Leben ist, im Idealfall die obere Hälfte, die mit dem Gehirn, sodass sie noch in der Lage wäre, zu erzählen, wer der Mörder ist, eine Art sprechende Leiche also – und nichts anderes ist Eladio Altube!
»Seltsam nur, dass jemand euch in jener Nacht bewusstlos schlagen konnte, ohne dass ihr ihn vorher bemerkt und erkannt habt«, sage ich deshalb in unser Schweigen hinein. »Oder war es dafür noch zu dunkel?«
Mit einem Blick zur Seite sehe ich, wie Eladio seine Schweinsäuglein zusammenkneift.
»Ja, es war noch stockfinster. Unsere beiden Karbonlampen standen im Sand, ein paar Schritte von uns entfernt, weil Leonardo und ich über die … Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mehr, was wir genau taten, bevor dieser Dreckskerl uns ein paar überzog. Mein Gedächtnis lässt mich vollkommen im Stich, bis Leonardo und ich mit einer Kette umden Hals an dem Felsen hängen und das Wasser uns schon bis zur Hüfte reicht.«
»Dann habt ihr sicher miteinander geredet …«
»Ja, klar. ›Was … was soll das?‹, hat Leonardo geschrien. ›Wer hat uns hier angekettet?‹«
»Er hatte den Täter also auch nicht gesehen.«
»Ich habe doch gesagt, dass es stockfinster war!«
Seine Miene erstarrt, sicher überkommt ihn die Erinnerung gerade mit voller Wucht, weshalb ich ihn besser in Ruhe lasse. Die äußeren Umstände sind für einen Ermittler sowieso nicht besonders ideal: Hat man schon je gelesen, dass ein Sam Spade jemanden in die Mangel nimmt, während er zu Fuß von einer Hühnerfarm zu … ja, wohin eigentlich? … nun, mit Sicherheit zu einem anderen Geschäft eilt? Und das auch noch am helllichten Tag! Keines meiner Idole könnte bei so einer Szenerie klug taktieren, jeder von ihnen würde die verruchte Atmosphäre missen, die den Schauplätzen des Genres eigen ist: eine dunkle Gasse; ein schummriges Lokal mit von blauem Dunst umhüllten Hängelampen als einziger Beleuchtung; an den Tischen heimliche Liebespärchen oder finstere Gestalten, die Pläne für ihr nächstes Verbrechen schmieden; auf einem Hocker am Tresen eine Blondine mit Schwanenhals und ellenlangen Beinen, die sich wünscht, dass der Tag besser ende als all die vorherigen; ein Barkeeper, der zum x-ten Mal den Tresen mit einem schmierigen Lappen abwischt, während er in den unergründlichen Gesichtern seiner düster dreinblickenden Gäste forscht und immer wieder hinüberblickt zu den zwei Ganoven, die sich an einem kleinen Tisch in der hintersten Ecke unterhalten, in der stillen Hoffnung, dass sie endlich gehen, bevor am Ende nur einer geht und der andere mit dem Gesicht auf der Tischplatte liegen bleibt, im Rücken ein Messer … Nein, bei diesem flotten Marsch auf der Straßehoch nach Algorta, am helllichten Tag und noch dazu umweht von einer frischen Brise, würden sie bestimmt auch nichts Brauchbares aus dem noch lebenden Mordopfer herausquetschen können, das ansonsten der
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