Nur Ein Toter Mehr
nicht mehr tun, schließlich gilt er als einer der besten Fischer der Gegend, wenn nicht gar als
der
beste, zumal er als Einziger bisher den legendären Riesenmeeraal
Negro
gesehen hat.
Durch ein Loch in der Hecke schlüpfe ich auf seinen Grundbesitz. Wie ich noch darüber sinniere, dass es eigentlich ganz schön unverschämt ist, von Eltern zu verlangen,ihren Schmerz über den Tod ihrer Tochter kurz mal hintanzustellen, um ein paar Fragen zu einem Jahre zurückliegenden
cold case
zu beantworten, liegt auch schon Aserena vor mir. Gerade bestaune ich die schwere Eingangstür, die von einer Rebe voller dunkler Weintrauben beschattet wird, als ein paar Meter weiter links knarrend die Stalltür aufgeht und ein Esel und eine Kuh heraustrotten, gefolgt von der Bäuerin, die sie mit einem Stock antreibt, obwohl die Tiere den Weg zur Weide bestimmt auswendig kennen.
»Guten Morgen, Elixane«, begrüße ich die Frau.
Falls sie überrascht ist, so zeigt sie es zumindest nicht: Sie murmelt kurz einen Gruß, und ihr Blick streift mein Gesicht. Ich setze mich auf die Holzbank unter dem Weinstock und warte.
»Du bist der Sohn von Vicente Bordaberri«, sagt sie, als sie kurz darauf wieder auf den Hof kommt. »Dein Vater hat sich nach dem Einmarsch von Francos Truppen mit Félix in den Bergen versteckt. Die einen überleben es und die anderen nicht.«
Félix Apraiz musste von ’37 bis ’43 als Zwangsarbeiter in einem der Strafbataillone malochen, mit denen Franco sämtliche spanischen Straßen bauen ließ, kam also gerade noch rechtzeitig zurück, um seine Tochter so elend sterben zu sehen.
»Wie geht’s deiner Mutter?«
»Gut, danke.«
»Früher hatten wir noch drei Kühe.« Elixane deutet mit dem Kopf in Richtung Weide. »Kommst du aus der Kirche?«
Verlegen rücke ich mir die Krawatte zurecht.
»Äh, nein, ich habe bloß einen Spaziergang gemacht. Ist Félix da? Ich muss mit ihm sprechen.«
»Ist was passiert?«
»Nein, keine Sorge, ich habe nur ein paar Fragen.«
»Félix ist fischen gegangen.«
Das hätte ich mir denken können. Aber vielleicht erfahre ich ja auch einiges von Elixane.
»Mit den Reusen?«
Unwillkürlich sieht sie sich nach allen Seiten um, bevor sie murmelt: »Er hat endlich keine Angst mehr. Zwar ging er danach schon noch fischen, doch nur noch mit der Angel. Und um den Felsen hat er einen großen Bogen gemacht, selbst dann noch, nachdem sie ihn aus dem Strafbataillon entlassen hatten. Erst seit ein paar Monaten fängt er die Fische wieder mit den Reusen. Ein gutes Zeichen.«
»Ein gutes Zeichen?«
»Ja, schließlich muss er irgendwann drüber wegkommen. Es hat ihm unheimlich zu schaffen gemacht. In der ersten Zeit danach hat er kaum noch gegessen und ist richtig vom Fleisch gefallen. ›Die armen Altubes! Hätte ich den Ring bloß nie dort einzementiert!‹, hat er immer wieder gestöhnt, jahrelang.«
Wunderbar, sie ist ganz von allein auf mein Anliegen zu sprechen gekommen.
»Aber bevor der eine Zwilling umkam …«
»Armer Teufel.«
»… vor dem Unglück: Hat es Félix da nicht auf die Palme gebracht, dass die Altube-Brüder einfach seinen Ring benutzt haben?«
»Sicher, er hat gekocht vor Wut. ›Wenn ich die erwische!‹, hat er geknurrt. Aber er hat sie nie auf frischer Tat ertappt. Wenn er allerdings vor ihnen zum Strand runterkam, hat er die Leinen immer gekappt, sodass ihre Reusen abtrieben. Doch die Zwillinge haben sich davon nicht beeindrucken lassen und einfach neue drangehängt. Félix sagte immer, in einem Wald würde er eine Bärenfalle aufstellen.«
»Und wie habt ihr von dem schrecklichen Ereignis erfahren?«
»Meine Tochter und ich waren gerade mit unserem Esel und den Milchkannen unterwegs, als sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete. Zu Hause habe ich es dann meinem Mann erzählt, der sich nach dem Melken noch mal hingelegt hatte, weil er in der Nacht nicht schlafen konnte und deshalb frische Luft schnappen war.« Sie zuckt mit den Schultern. »Aber das ist Schnee von gestern.«
»Der mich sehr interessiert!«
»Der dich interess…? Warum?«
Elixanes Gesichtsausdruck hat sich gewandelt, meine Wissbegierde hat sie aufgeschreckt.
»Er war’s nicht!«, sagt sie fast tonlos, und in ihren Augen spiegelt sich dieselbe Angst, die sie im Krieg um ihn gehabt haben muss.
»Niemand beschuldigt ihn«, beruhige ich sie schnell, »damals nicht und heute ebenso wenig. Letztlich hätte es jeder in Getxo sein können.«
Voll Argwohn sieht sie mich an. »Das
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