Nur Ein Toter Mehr
zu tun hat mit dem, für das sie uns mit nächtlichen »Spazierfahrten« und heimlichen Standgerichten bestrafen.
Koldobike mustert mich mit einem unergründlichen Blick.
»Du scheinst dich ja richtiggehend zu freuen, dass sie dich ins Visier genommen haben.«
»Eladio Altube hat mir so einiges erzählt«, erwidere ich, während ich die Papiere auf dem Schreibtisch in die jeweiligen Schubladen zurückräume, »und ich werde wohl die ganze Nacht brauchen, um all die neuen Informationen zu ordnen. Ich habe ihn den ganzen Tag begleitet und dabei einentiefen Einblick in ein paar seiner ›Geschäfte‹ erhalten. Ich war mit ihm in Joseba Ermos Eisenwarenhandlung, und Altubes Ehefrau habe ich ebenfalls ausgehorcht.«
»Und? Hast du eine Fährte gefunden?«
»Nein, das nicht. Aber … wie soll ich dir das erklären? … Ich … ich glaube, die zehn Jahre haben den Fall reifen lassen wie einen guten Tropfen: Die Mauer des Schweigens ist brüchig geworden.«
»So schnell? … Da geht etwas nicht mit rechten Dingen zu.«
»Und wenn ich dir erzähle, dass der Mörder noch zwei weitere Male versucht hat, Eladio Altube um die Ecke zu bringen? Niemand wusste das bisher, nicht einmal seine Frau Bidane. Er wollte sie wohl nicht erschrecken.« Ich lege den Zeigefinger auf die Lippen. »Aber dass das unter uns bleibt.«
»Natürlich, Chef … oh, verdammt!«
Koldobike scheint plötzlich etwas eingefallen zu sein. Schnell stöckelt sie zu ihrem Tisch am Eingang, von dem sie ein in Packpapier eingeschlagenes, längliches Päckchen nimmt.
»Das habe ich bei der ganzen Aufregung völlig verschwitzt«, sagt sie und drückt es mir in die Hand. »Als ich heute Mittag den Laden schloss, hat mir eine Nachbarin erzählt, dass sie dich mit dem Zwilling die Straße Richtung Sarrikobaso hat hinaufgehen sehen.«
Neugierig wickele ich das Päckchen aus. Zum Vorschein kommen zwei mit Chorizowurst belegte Brote.
Beeindruckt schüttele ich den Kopf. »Wie kommst du nur auf so was?«
»Hast du etwas gegessen oder nicht?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Siehst du«, sagt sie nur und geht wieder vor zur Tür, umvon innen abzuschließen. Unser Arbeitstag ist zwar noch nicht zu Ende, so wie es hier aber aussieht, kann man sowieso niemanden richtig bedienen.
Mit dem ersten Bissen wird mir bewusst, was für einen Mordshunger ich habe. Die Brotscheiben triefen nur so vom roten Bratensaft der gebratenen Chorizowurst, der mir beim Hineinbeißen die Finger hinunterläuft, weshalb ich aus der Toilette das Gästehandtuch hole und es vor mir auf dem Schreibtisch ausbreite. Mit vollen Backen kauend sehe ich Koldobike zu, wie sie in ihrem viel zu engen Rock ein Buch nach dem anderen sorgfältig zurück in die Regale stellt. In eine Metallröhre gequetscht hätte sie sicher nicht weniger Bewegungsfreiheit. Wenigstens ist der Rock nicht zu kurz, er reicht knapp übers Knie. Und sie trägt schwarze, blickdichte Strümpfe gemäß dem franquistischen Moralkodex, den der Pfarrer und Sittenapostel von San Baskardo, Don Eulogio, im Juni 1937 von der Kanzel herab verkündet hat und der trotz seiner Pensionierung letztes Jahr hier nach wie vor noch gilt. Allerdings offenbart ihr beängstigend enger Rock aufregende Kurven und das, wo ich Koldobike bisher immer für schmalhüftig gehalten habe! Und dazu noch die neue Haarfarbe: Koldobike wirkt auf mich plötzlich wie eine völlig andere Frau.
»Du solltest ein paar Tage warten, bevor du wieder jemanden befragst.«
Als hätte sie meine Gedanken erraten, hat sie sich zu mir umgedreht. Wie auf frischer Tat ertappt verschlucke ich mich und muss fürchterlich husten. Zu meiner eigenen Beruhigung rufe ich mir ins Gedächtnis, dass letzten Endes auch ich zu jemand anderem geworden bin, inklusive neuem Namen – alles Begleiterscheinungen dieses Romans, der seit gut sechsundfünfzig Stunden beziehungsweise hundertzwei Seiten auf so wundersame Weise Gestalt annimmt.
»Das geht nicht«, stammele ich mit hochrotem Kopf. »Der … der Roman hat seinen eigenen Rhythmus.«
»Ich meine ja nur, wegen der Blauhemden.«
Tief atme ich ein. Endlich habe ich meine Fassung wiedergefunden.
»Ach, die wollten doch bloß ihre Muskeln spielen lassen.«
»Sie werden dich umbringen.«
»Wenn sie das tun, werde ich mir schon was überlegen«, entgegne ich gelassen.
»Pass auf, dass dich deine schnoddrigen Krimi-Sätze nicht zu übermütig machen.«
Stumm schlucke ich den letzten Bissen hinunter und wische mir die Hände an dem
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