Nur Ein Toter Mehr
Handtuch ab, das ich anschließend zurück in die Toilette hänge.
»Die belegten Brote waren köstlich, mein Schatz.«
Ich kenne keine Frau, die so wenig über meine Scherze lacht wie Koldobike, und das, obwohl sie selbst mit so viel Mutterwitz ausgestattet ist.
»Du solltest jetzt besser nach Hause gehen, bevor deine Mutter noch Verdacht schöpft, denn wie ich dich kenne, hast du ihr noch nichts von Samuel Esparta erzählt. Was du brauchst, ist ein kräftiges Abendessen und eine ordentliche Mütze Schlaf.«
»Ich muss aber doch noch niederschreiben, was passiert ist!«
»Dazu hast du morgen noch Zeit. Ohne den Autor schreibt die Geschichte sich nicht weiter.«
»Mit wem würdest
du
eigentlich weitermachen?«
»Vor morgen Nachmittag verrate ich dir das nicht.«
Zum Glück weiß ich, wie ich den Namen aus ihr herauskitzele: Mit meinem treusten Hundeblick sehe ich sie an.
»Also gut«, seufzt sie. »Félix Apraiz. Aber Achtung: Ich glaube nicht, dass er es war: Man bringt niemanden wegeneines Eisenrings um. Zumal Apraiz der Letzte wäre, der sie an seinen eigenen Ring gekettet hätte.«
»Es sei denn, er hat sich ausgerechnet, dass alle so denken wie du«, erkläre ich, während ich in meiner Jackentasche nach einem Taschentuch suche. Dabei stoßen meine Finger auf das durchgesägte Kettenglied. Ich zeige ihr die beiden Eisenteile.
Doch es interessiert sie nicht im Geringsten, warum ich sie wie einen Talisman mit mir herumtrage. Sie öffnet mir nur die Tür und reicht mir meinen Hut.
»Und denk daran, dass Félix Apraiz’ Tochter Alodi vor einem Jahr ganz in der Nähe des Strands von Lecumberris Karren überfahren worden ist. Du solltest ihr ein paar Worte widmen, bevor Samuel Esparta sich morgen wieder an die Arbeit macht.«
7 Eine grundanständige Baskin
»Lass ihn in Ruhe, Mama«, höre ich gerade noch die Stimme meiner Schwester, als ich am nächsten Morgen die Tür zur Küche aufmache.
Wortlos blickt mich meine Mutter an. Es ist ihr anzumerken, dass sie sich sehr zusammenreißen muss, um mir keine Standpauke zu halten. Sie hat es noch immer nicht verwunden, dass ich an ganz gewöhnlichen Werktagen meinen besten Anzug trage. Ich verstehe sie gut: Den Anzug, den meine Schwester auf meine Maße geändert hat, habe ich von meinem Vater geerbt, der ihn nur einmal zu ihrer Hochzeit angehabt hat – weshalb sie bei meinem Anblick nun tagtäglich an ihren Mann erinnert wird, an den lebenden
und
den toten, denn bis heute macht sie sich Vorwürfe, dass sie ihn nicht in diesem Anzug hat begraben lassen.
»Heute komme ich ganz sicher zum Mittagessen heim«, murmele ich in dem Versuch, ihren Groll zu beschwichtigen, und setze mich an den Küchentisch, um zu frühstücken. Obwohl man das eigentlich kein Frühstück nennen kann, was da vor mir steht, so ganz ohne Kaffee. Von den letzten paar Gramm, die wir vor Monaten für ein Heidengeld auf dem Schwarzmarkt ergattert haben, spart meine Mutter den letzten Fingerhut voll für unvorhergesehenen Besuch auf.
Während ich eine Scheibe Schwarzbrot in die große Tasse Milch einbrocke, kommt mir Félix Apraiz’ Tochter wieder in den Sinn. Wie sollte ich mich auch nicht an sie erinnern, bildhübsch, wie sie gewesen ist? Ihr Verlobter, Ismael Jáuregui, war im Krieg gefallen. Doch obwohl sie die schwarze Kleidung einer echte Witwe trug, wollte Alodi nicht wahrhaben, dass er nicht mehr lebte. Tagein, tagaus wartete sie auf seine Rückkehr – bis sie letztes Jahr im Oktober unter die Räder von Lecumberris Karren kam. Es geschah gut hundert Meter vom Strand entfernt, an einer Stelle, an der sie täglich mit ihrem mit Kannen beladenen Esel vorüberging. Zum Ausliefern der Milch musste sie nicht zwangsläufig dort vorbei, dennoch wählte sie immer diesen Weg. Um sich an Ismaels ersten Kuss am Strand zu erinnern? Oder einen Blick auf den Hof der Jáureguis zu werfen, der in Sichtweite des Unfallorts liegt? Wahrscheinlich vermuten viele dasselbe wie ich: Ein langsamer Karren kann nur jemanden überrollen, der mit seinen Gedanken ganz woanders ist.
Der Hof der Apraiz heißt Aserena. Er ist einer der ältesten Höfe in Getxo, einer der achtundvierzig, die der Gründungslegende nach den ursprünglichen Ort bildeten.
Ich gehe in umgekehrter Richtung den sich zwischen golden leuchtenden Maisfeldern windenden Pfad entlang, den Félix Apraiz wahrscheinlich nimmt, um am Strand seine Reusen an den Ring zu hängen. Wenn er es denn noch immer tut … Obwohl, warum sollte er es
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