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Nur Ein Toter Mehr

Nur Ein Toter Mehr

Titel: Nur Ein Toter Mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramiro Pinilla
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Apraiz’ Felsen zulaufe und dabei eifrig weiterzähle.
    Wer wohl diese Holzplanke mit einem Stein markiert hat? Das Meer hat sie in der Nacht an Land gespült, und jemand hat sie damit zu seinem Eigentum erklärt. Bloß: Wo ist dieser Jemand?
    »Hallo, Buchhändler!«
    Erschrocken fahre ich herum: Eingehüllt in einen Regenmantel und ebenfalls mit Schirm bewaffnet kommt Luciano Aguirre, der Falangist, mit lautlosen Schritten auf mich zu. Dabei dachte ich noch vor einer guten Stunde, den roten Faden verloren zu haben …
    »Was willst du?«, fauche ich ihn an.
    »Schön, dass du wieder auf den Beinen bist. Warst du beim Arzt?«
    Wortlos kehre ich ihm den Rücken zu und stapfe weiter. Er lässt sich davon jedoch nicht beeindrucken und folgt mir auf dem Fuße.
    »Hör zu: Das mit den paar Tritten … das war doch halb so wild. Wenn wir wirklich jemanden aus dem Weg räumen wollen, schlagen wir ganz anders zu … Schön jedenfalls, dich hier zu treffen, dann kann es mit der ersten Lektion ja gleich losgehen. Weißt du, vor lauter Aufregung habe ich die ganze Nacht nämlich kein Auge zugetan.«
    »Die erste Lektion?«
    »Ja, ich will sehen, wie du es machst. Wo und wann du schreibst … das heißt, vor allem, wie.«
    »Ich tue es in diesem Moment.« Ich drehe mich zu ihm um. »Du und ich, hier am Strand … auch wenn ich auf die Szene gut verzichten könnte.«
    »Trotzdem wird sie in deinem Roman vorkommen.«
    »Genauso wie die gestern in der Buchhandlung mit den drei Musterknaben des neuen Spanien.«
    »Großartig! Wie ich es vermutet habe! Du schreibst einfach restlos alles nieder, was vor deiner Nase passiert!«, ruft Luciano euphorisch, doch gleich darauf verdüstert sich seine Miene wieder etwas. »Als Dichter hat man an dieser Erkenntnis allerdings ein wenig zu knabbern.«
    Jetzt habe ich endgültig die Nase voll.
    »Und was zum Teufel geht mich das an?«, brülle ich ihn an.
    »Eh, was ist denn das für eine Ausdrucksweise für einen braven Buchhändler?« Scheinbar entrüstet schüttelt er den Kopf, muss dann aber grinsen. »Zumindest bist du keine Schwuchtel, sondern ein gestandenes Mannsbild, so wie wir. Da werden wir uns sicher gut verstehen.«
    Eine solche Frechheit verdient keine Antwort. Schweigend gehe ich weiter in Richtung Felsen, er hinterher. Ja, hier hat alles angefangen, bloß: Wie soll ich mich auf meinen Fall konzentrieren mit dieser Schmeißfliege im Rücken?
    »Ein Hoch auf die Freiheit der Dichtung!«, höre ich ihn sagen. »Und weißt du, warum? Weil ich Teil dessen bin, was du siehst und hörst. Und da ich nun mal hier bin, musst du mir einen Platz in deiner Geschichte einräumen. Das sind die Zwänge, die dir die verfluchte Wirklichkeit auferlegt, ob dir das nun passt oder nicht.«
    »Geh zurück in dein Reich von Gottes Gnaden und lass mich in Frieden.« Abrupt drehe ich mich zu ihm um. »Wo warst
du
eigentlich in jener Juninacht 1935, als Leonardo Altube umgebracht wurde?«
    Mit
der
Frage hat er nicht gerechnet. Sein Grinsen erstarrt zur Grimasse.
    »Im Juni jenes Jahres war ich in Valladolid, Zeugnisse fälschen. So habe ich drei Jahre Jura ›studiert‹ – ohne je einenFuß in eine Vorlesung zu setzen, und von Mal zu Mal sind mir die gefälschten Unterschriften besser gelungen. Zu meinem Glück kam dann der Krieg, sodass ich nicht auch noch das Staatsexamen selbst unterschreiben musste. Meine armen Eltern glauben bis heute, dass der Krieg meine glorreiche Karriere zunichtegemacht hat. Ich kam aber mit etwas viel Glorreicherem aus Valladolid zurück: José Antonios Doktrin, der Ideologie unserer glorreichen …«
    »Du warst also nicht in Getxo«, beende ich seinen Redeschwall.
    »Nein, war ich nicht.«
    »Vielleicht hast du ihn umgebracht und bist erst anschließend nach Valladolid? Ein Monat ist lang, und das Verbrechen wurde schon am Siebten verübt.«
    »Hör auf, Buchhändler, das ist pure Zeitverschwendung. Selbst wenn ich der Mörder wäre – du wirst mir nicht an den Karren fahren können, und du weißt auch, wieso. Dennoch gefällt mir deine Fragerei, denn so fühle ich mich ganz als Teil deines Romans und bin sicher auch bald in der Lage, selbst einen zu schreiben … Ich weiß nur noch nicht, wie anfangen.«
    Wir sind stehen geblieben, bieten einander die Stirn. Obwohl es aufgehört hat zu regnen, lassen wir unsere Schirme aufgespannt.
    »Du treibst Geschäfte mit dem lebenden Zwilling, und sicher hast du das auch schon vor 1935 mit beiden getan«, fahre ich mit meinem

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