Nur Ein Toter Mehr
waren, sodass mit Einsetzen der Flut … Ich muss mich beeilen, das Wasser steigt … Wo lag der Fehler in dem Plan? Hatten sich die Ketten in der Brandung verheddert und eine war dadurch kürzer geworden? Hatte der Wind gedreht, weshalb das Wasser schneller anstieg als gedacht? Oder hatte Lucio Etxe an jenem Morgen verschlafen und kam später als sonst an den Strand? … Rasch lege ich den Meterstab an und ritze mit dem spitzen Stein breite Kerben in den algenbewachsenen Felsen, eine an dessen Ende und eine unten auf Höhe des derzeitigen Wasserstands, dazwischen eine Art Skala.
»Alles klar?«, höre ich Larrea vom Strand her rufen.
Was habe ich jetzt schon wieder falsch gemacht?, schießt es mir durch den Kopf, es fällt mir aber nichts ein, weshalb ich seine Frage übergehe. Auf meinem Rückweg schiebt die Strömung meine Beine von hinten an. Habe ich ab jetzt auch das Meer auf meiner Seite?
»Achtzehn Uhr dreiundfünfzig«, verkündet Larrea mit Blick auf seine Taschenuhr, als ich mich vor ihm im Sand niederlasse.
Worauf ich nur denke: Was bin ich bloß für ein Trottel, natürlich, ich brauche eine Uhr! Doch es kommt noch schlimmer. Kaum kneife ich die Augen zusammen und halte Ausschau nach meinen über der Wasseroberfläche liegenden Kerben – jawohl, dort sind sie, zumindest das habe ich gut gemacht, auch wenn sie nur schwer zu erkennen sind –, zieht er ein Opernglas aus der Tasche und reicht es mir.
»Ich glaube, bei dieser Entfernung ist eine kleine Hilfe angebracht. Damit können wir uns auch etwas weiter nach oben setzen, wo die Wellen nicht hinkommen.«
Er geht voraus, und wie ein gelehriger Schüler trotte ich hinter ihm her. Meine nassen Hosenbeine habe ich vergessen, sobald wir nebeneinander am Rand des Strandes sitzen und das Fernglas zwischen uns hin und her wechselt. Es ist nicht einfach, den tatsächlichen Anstieg des Wasserstands zu messen: Mit jeder anbrandenden Welle sprüht die Gischt den Felsen hoch, doch gleich darauf fallen die Wassermassen wieder in sich zusammen und ziehen sich zurück, wobei sich irgendwann in diesem Auf und Ab der neue Wasserstand ergibt.
Larrea zählt unterdessen voller Begeisterung die vergangenen Minuten. »Zehn … Fünfzehn …« Als er »Zwanzig!« ruft, zeigt meine eingeritzte Messlatte noch keinen halben Meter an. »Vierzig … fünfundvierzig … siebenundvierzig …« Der Schaum spritzt über die mittlere Kerbe, zieht sich dann aber wieder darunter zurück, unmittelbar nachdem Larrea »achtundvierzig!« gerufen hat, ist sie allerdings nicht mehr zu sehen. Es ist illusorisch, ganz präzise zu sein: Nach einigem Hin und Her einigen wir uns auf neunundfünfzig Zentimeter, die die Flut in neunundvierzigMinuten ansteigt – zumindest hier an Ort und Stelle und zu dieser Uhrzeit, bei diesen Windverhältnissen und in dieser Mondphase.
»Das war richtig aufregend!«, erklärt Larrea begeistert.
Ich betrachte seine roten Apfelbäckchen und wäre froh, ihn nicht hier neben mir zu sehen. Und darum räche ich mich an ihm und sage schonungslos:
»Ist Ihnen klar, dass schon Jahre vor Ihnen jemand seine eigene Landkarte der Schritte und Zeiten entworfen hat?«
16 Bidanes seltsame Bitte
Als ich in die Avenida del Ejército einbiege, sehe ich, dass Koldobike die Buchhandlung noch nicht geschlossen hat. Licht sickert seitlich neben den grünen Scheibengardinen der Glastür durch. Aber warum sind sie zugezogen …?
Als mir jemand einen Schwall Wasser über den Kopf schüttet, komme ich wieder zu mir. Ich liege am Boden vor meinem allerheiligsten Regal, mir dreht sich alles, und irgendwo höre ich Koldobike mit sich überschlagender Stimme »Grobiane! Barbaren!« schimpfen.
»Der Schwachkopf ist wach. Du kannst sie rauslassen.«
Eine Männerstimme, die ich kenne. Als ich die Augen aufschlage, sehe ich, dass sie einem von Lucianos Kumpanen gehört, der wie er ein Oberlippenbärtchen trägt. Dann höre ich, wie die Tür zur Toilette aufgerissen wird.
»Habt ihr ihn umgebracht?«, kreischt meine Sekretärin – ein halbe Minute später kniet sie neben mir, nachdem sie wütend den Falangisten weggeschubst hat, und hebt vorsichtig meinen Kopf in ihren Schoß.
»Halt die Fresse, oder ich sperr dich wieder ins Klo«, sagt eine zweite Stimme. Der andere Falangist.
Ein Taschentuch tupft zart mein Gesicht ab.
»Und jetzt sperr schön deine Lauscher auf, du Leseratte«,knurrt der Erste. Seine Stiefel stehen direkt neben meinem Gesicht. »Wir sagen es dir nämlich nur
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