Nur Ein Toter Mehr
schuld daran«, erklärt er, während er in seinem Jackett nach einem goldenen Kugelschreiber und einem kleinen Notizblock sucht. »Also: Die 434 Schritte von hier bis zum Anfang der Straße entsprechen sieben Minuten fünfzehn Sekunden und die 750 Schritte die Straße hoch zwölf Minuten, dreißig Sekunden. Wieder runter sind es dann nur 732 Schritte, macht zehn Minuten, fünfzehn Sekunden … plus die 434 Schritte zurück über den Strand, die wegen der Ermüdung etwas länger dauern, sprich acht Minuten, dreißig Sekunden … macht zusammen an Schritten, die natü…«
»Mich interessieren nicht die Schritte«, unterbreche ich ihn, »sondern nur die Minuten.«
»… macht insgesamt achtunddreißig Minuten und dreißig Sekunden«, verkündet er selbstbewusst. »Das ist die Zeit, die bei meinem Experiment herausgekommen ist, was natürlich nicht der Gehdauer eines durchschnittlichen Mannes entspricht, weshalb wir unseren Faktor anwenden müssen. Augenblick … also, das ergibt dreiunddreißig Minuten und sechsundfünfzig Sekunden! … Und wozu brauchen Sie das jetzt?«
Das ist eine durchaus berechtigte Frage, die ich Luis Federico Larrea als Dank für seine Mühen beantworten muss.
»Ich will berechnen, um wie viele Zentimeter die Flut in dreiunddreißig Minuten und sechsundfünfzig Sekunden steigt. Das ist nämlich der springende Punkt.«
»Bedaure, aber von den Gezeiten habe ich leider keine Landkarten; ebenso wenig wie Seemeilen kann ich die nämlich nicht in Schritten vermessen, wie Sie sicher verstehen.«
»Trotzdem waren Sie mir eine große Hilfe, Señor Larrea, vielen Dank. Sie haben mir zumindest die erste Zahl dafür geliefert. Jetzt will ich Sie aber nicht länger belästigen. In drei, vier Tagen sind das Buch und die Zeitschrift, die Sie noch bestellt haben, sicher da, wir rufen Sie dann an.«
»Sie wollen mich jetzt gewiss nicht vom Strand vertreiben, oder?«
Sein freundliches Naturell ist einfach zu entwaffnend, doch als ich schon überlege, auf welche Weise ich ihn loswerden könnte, schießt mir auf einmal durch den Kopf, wie Lucio Etxe verzweifelt an die Tür der Schmiede hämmert.
»Verdammt!«, platzt es aus mir heraus. »Dreiunddreißig Minuten und sechsundfünfzig Sekunden reichen ja gar nicht! Ich habe vergessen, dass es eine Ewigkeit gedauert hatte, bis die Zallas sich aus ihren Betten wälzten und ihre Gehirnwindungen die Notlage erkannten!«
»Sie reden von dem Vorfall mit den Altube-Brüdern, stimmt’s? Es geht Ihnen um die Zeit, die dieser Lucio Etxe gebraucht hat, um den Schmied zu holen.«
Kurz sehe ich ihn an. Hat er die ganze Zeit gewusst, wieso ich mit ihm an den Strand gehen wollte? Sei’s drum.
»Ja«, gestehe ich freimütig, »und seiner genauen Schilderung zufolge muss ich noch einige Minuten dazurechnen … sagen wir fünfzehn, so viel Freiheit gestattete ich uns, wir waren beide nicht dabei, und vierzehn oder sechzehn wären genauso willkürlich. Also dreiunddreißig Minuten und sechsundfünfzig Sekunden plus fünfzehn macht zusammenachtundvierzig Minuten und sechsund… sagen wir neunundvierzig, denn auf die vier Sekunden kommt es wirklich nicht mehr an.«
Etwa hundert Meter vor uns sehen wir Félix Apraiz’ Felsen aus dem Meer ragen, das seit etwa einer Stunde wieder ansteigt.
»Dort wurde der arme Kerl ermordet«, murmelt Larrea, dessen Augen meinem Blick gefolgt sind.
»Vielleicht war’s aber auch nur ein tragischer Unfall.«
»Ein Unfall? Wenn ich mich recht entsinne, war er an den Felsen gekettet!«
Weiß er nicht, dass er sich gerade in den Kreis meiner Verdächtigen einreiht? Ich versuche, ihn noch davon abzubringen.
»Immerhin ist endlich die Kette aufgetaucht. Joseba Ermo hatte sie damals entwendet. Er hat wohl darauf spekuliert, dass irgendwann ein ahnungsloser Kaufinteressent kommen und sie ihm für viel Geld aus dem Kreuz leiern würde.«
Larrea schmunzelt.
»Wie Sie wissen, sammele ich Dinge, die eine kuriose Geschichte zu erzählen haben. Und an dieser unheilvollen Kette haftet eine blutige Vergangenheit. Das macht sie so begehrenswert und wertvoll. Sammeln ist eine wahre Leidenschaft, fast schon eine Sucht. Meine drei Kellerräume sind voll mit solchen Schätzen. Sie bereichern mein Leben.«
Kein Schatten wandert dabei über sein Gesicht; er lächelt weiterhin so unbedarft, wie dies nur Menschen mit dicker Brieftasche vermögen, denen alle Unbilden der Welt nichts anhaben können, weshalb ich nun auch keine Rücksicht mehr kenne und zur
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