Nur Engel fliegen hoeher
gebrauchen können.«
»Also nicht an die IM-Verpflichtung erinnern?« »Nein, auf keinen Fall. Nichts überstürzen. Sie sollen sich in Sicherheit wiegen. Zuerst müssen wir den schwarzen König aus der Deckung locken.«
Kapitel 21
Mitte Mai 1989 ist es in Rostock schon sommerlich warm. Längst sind alle Bäume grün. Die Eisläden haben geöffnet und die Lokale an der Kröpeliner Straße, der autofreien Fußgängerzone, haben Tische und Stühle nach draußen gestellt. Und doch, so scheint es Jonas, ist in diesem Frühjahr einiges anders als in den Jahren zuvor. Man sieht Straßenmusiker und Kleinkünstler auf dem Boulevard, die früher gewöhnlich von der Polizei vertrieben wurden. Touristen aus Dänemark und Schweden flanieren durch die Stadt. Irgendwie erscheint der Frühling diesmal farbiger als in den zurückliegenden Jahren.
Vor zwei Wochen hat Jonas seinen Ausreiseantrag abgeschickt. Von seinem Chefredakteur wurde er daraufhin angewiesen, nur noch »Stalldienst« auszuüben, das heißt, dass er nur noch Arbeiten innerhalb der Redaktionsräume zu erledigen hat. Jonas darf also nicht mehr zu Pressekonferenzen gehen oder sonst irgendwie als Journalist in der Öffentlichkeit erscheinen. Und es ist ihm nicht mehr gestattet, den Spätdienst in der Druckerei zu übernehmen, wo der Seitenandruck vom Dienst habenden Redakteur kontrolliert und abgezeichnet wird. Er ist darüber nicht besonders erbost, er mochte es nie, bis spät in die Nacht in der SED-Druckerei VEB Ostseedruck Rostock zu hocken und die politische Verantwortung für den Inhalt der Zeitung zu übernehmen.
Seitdem alle Kollegen wissen, dass Jonas einen Ausreiseantrag gestellt hat, darf er noch die offiziellen Mitteilungen der Volkspolizei über Verkehrsunfälle in eigenen Sätzen formulieren, das Kinoprogramm abschreiben und über Fahrplanänderungen der Straßenbahn berichten. Jede Zeile muss er einem Abteilungsleiter vorlegen, bevor sie in den Satz geht.
Jonas hat sich damit abgefunden. Auch stört es ihn nicht sonderlich, dass er an den regelmäßigen Redaktionskonferenzen am Freitag nicht mehr teilnehmen darf. Sein Verlagsleiter hat dies damit begründet, dass er keine Betriebsgeheimnisse mehr erfahren dürfe, da die Gefahr bestünde, dass er sie der Bild-Zeitung preisgeben könne.
Große Themen, für die sich die westliche Presse hätte interessieren können, wurden auf den Redaktionskonferenzen nie besprochen. Im Gegenteil. Zu Beginn der Sitzung wurden vom Chefredakteur regelmäßig die neuesten Tabu-Listen verlesen. Diese Listen kamen von zentraler Stelle aus Berlin und galten für alle Tageszeitungen der Blockparteien. Wer diese Listen verfasste, hat Jonas nie erfahren. Der Chefredakteur durfte sie nie aus der Hand geben und musste sie nach dem Verlesen vernichten.
Eine Tabu-Liste beinhaltete Themen, die von Journalisten nicht aufgegriffen werden durften. Meist waren das genau jene Missstände, über die das Volk hinter vorgehaltener Hand sprach: die schlechte Versorgung, der Verfall der Altbausubstanz, der Schwarzhandel mit Gebrauchtwagen, die undurchsichtige Genehmigung von Westreisen, die schleichende Inflation und die offiziell nicht existierende Ausreisewelle.
Zur stillen Genugtuung der meisten Redakteure wurde über die Tabu-Themen dann stets im Westfernsehen berichtet. Manchmal hatte es den Anschein, als würde dem westdeutschen Fernsehen regelmäßig die aktuelle Tabu-Liste zugespielt, denn genau die dort aufgeführten Themen wurden in der Sendung »Kennzeichen D« im ZDF aufgegriffen.
Am letzten Freitag im Mai kommen mittags die Redakteure aus der Konferenz.
»Rotlichtbestrahlung beendet?«, witzelt Jonas.
Da betritt der Chefradakteur die Lokalredaktion und ordnet an: »Jonas, du kommst mit!«
»Will mein Chef mir persönlich das Kinoprogramm abnehmen?«
»Du lässt jetzt alles fallen und bist in einer Minute bei mir.«
Jonas spannt gelassen sein Manuskriptpapier aus der Continental und legt es auf den Tisch. Im Zimmer des Chefs nimmt er Platz in der Konferenzecke. An der Wand hinter dem Schreibtisch hängen zwei gleich große, gerahmte Farbfotos von SED-Generalsekretär Erich Honecker und CDU-Generalsekretär Gerald Götting. Die Wand gegenüber schmückt ein Schwarz-Weiß-Bild von Otto Nuschke, dem Mitbegründer und späteren Vorsitzenden der CDU in der sowjetischen Besatzungszone. Die Schrankwand wird geziert von wenigen Büchern und sozialistischem Nippes. Auf einem kleinen Schränkchen steht ein nagelneuer
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