Nur Gutes
aber manchmal kaum zu essen.›
‹Als man seine Wohnung räumte, fand man keine einzige Musikdose, glaube ich›, sagte Dagmar.
‹Einmal bat er mich, in meinem Kleiderschrank eine finnische Musikdose zu verstecken, wo Mutter sie nicht vermutete. Sie fand sie trotzdem. Mutter fand alles. Dann, um sich zu schützen, behauptete er, ich hätte sie ihm gestohlen, diese Musikdose. Ich ging zum Fluss und dachte. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte. Vielleicht ging ich rückwärts zum Fluss, weil der Wind von hinten kam.›
Anna lachte.
‹Damals war ich blond, ja. Die Erde war noch warm, als ich kam. Ich steckte die Musikdose in sein Grab. Dann hört er sie besser, dann hört er die Melodie, vielleicht, wenn ich sie ihm spiele. So tief steckte ich sie ins Grab, dass nur noch die Kurbel zu sehen war, die kleine Kurbel, um sie aufzuziehen. Die halbe Nacht lang.›
Anna, den Kopf geneigt, strich sich das schwarze Haar aus dem Gesicht. Sie hob den Kopf und sah Dagmar in die Augen.
‹Von der Spitze eines Berges einer in die Tiefe sah, / in der Mitte seines Lebens einer erst am Anfang war, /auf dem Grunde eines Meeres einer in die Höhe sah, / aus der Mitte seiner Fragen einer ohne Antwort war. Kennen Sie dieses Lied, Frau Mangold?›
‹Nein›, sagte Dagmar.
‹Macht nichts. Als die Erde kalt war, schon fast steif, dachte ich, ich kann nicht länger hier sein, nicht ewig an seinem Grab sitzen und die kleine Kurbel drehen, diese Musikdose aus Finnland, die ich ihm gebracht habe zum Abschied. Ich grub sie wieder aus und steckte sie umgekehrt ins Grab. Die Kurbel voran.›
Anna stieß Luft durch die Nase.
‹Damit er sie drehen kann, wenn ihm danach ist. Wenn ihm langweilig ist da unten. Bei den Maden und den Teufeln.›
Anna sah zum Fenster und schwieg.
‹Man sagt, Sie leben im Ausland›, sagte Dagmar.
Ich setzte mich neben das Telefon, wählte die Nummer meiner Eltern, 461 19 37.
Mangold, sagte meine Mutter.
Dagmar legte auf.
‹Niemand dran.›
Dagmar dachte an die hagere Person, die sie am Morgen durchs Fenster gesehen hatte, einen Schatten, der von Haus zu Haus huschte und plötzlich stehen blieb und zu ihr hinaufsah, zwei, drei Sekunden lang, sich dann in ein Auto setzte und wegfuhr, Richtung Friedhof. Sie drehte sich zu Anna, Schnee fiel in kleinen leichten Flocken.
‹Zwanzig vor elf›, sagte sie.
‹Ich muss gehen›, sagte Anna.
‹Ja, vielleicht wäre es gut, wenn Sie nun gingen.›
Es müsste einem gelingen, seine Wünsche nicht mit einem Vielleicht zu verwässern -
‹Und ich sollte mich endlich anziehen›, sagte Dagmar.
Wieder schellte das Telefon.
‹Mangold.
Simon, du bist es.›
Dagmar lächelte und sah zu Anna, zog die Brauen hoch und lächelte.
‹Hast du vorhin.
Und dann hängst du einfach auf.
Ja, um elf Uhr fünfzig am Nordbahnhof, wie abgemacht. Doch nichts Schlimmes.
Schade, wir haben uns auf die Kinder sehr gefreut, dein Vater und ich, sehr schade. Gute Besserung den beiden. Um elf Uhr fünfzig, ja, Simon, jemand wird da sein, entweder dein Vater oder ich.
Ja, Simon.›
Anna saß am hellen Tisch, ihren Rucksack auf dem Schoß.
‹Weißt du, wer hier neben mir sitzt, hier in der Küche? Du würdest es nicht glauben.›
Anna riss die Arme hoch und begann zu winken, Anna drückte den Finger auf den Mund, schüttelte den Kopf,winkte wieder mit beiden Händen und schüttelte den Kopf.
‹Nicht wichtig, Simon, ich wollte dich nur.
Ja, wenn du hier bist.
Nein, Simon.
Bis dann. Wir freuen uns auf dich.›
Dagmar zitterte. Sie ging zum hohen blauen Kühlschrank und zog den Gürtel des Morgenrocks fest.
‹Entschuldigung, Anna. Das wollte ich nicht.›
Anna schwieg.
‹Seine Kinder seien krank, nichts Schlimmes, sagt er, eine Erkältung.›
‹Ja›, sagte Anna.
‹Ich muss mich anziehen›, sagte Dagmar.
Sie trat ans Spülbecken, drehte den Hahn und wusch sich die Hände.
Anna steht nicht auf -
Anna stand auf, den Rucksack in der rechten Hand, und trat ans Fenster, schaute, vom Vorhang geschützt, ins Freie und wich zurück.
‹Liegt draußen schon Schnee?›, fragte Dagmar.
Anna Baumer ist verrückt -
‹Hat Simon die Kinder dabei, geraten Albert und Simon selten aneinander, Vater und Sohn, wenn die Enkel dabei sind.›
‹Ja›, sagte Anna, den Rücken zu Dagmar gewandt.
‹Liegt schon Schnee?›, fragte Dagmar.
‹Zu wenig›, sagte Anna.
‹Simon hat seinem Vater bis heute nicht verziehen. Es gibt Leute, die können nicht vergessen. Man muss
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